, 6. Februar 2016
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Buffonade und Totenmesse zugleich

Dank des Engagements einer Handvoll RheintalerInnen ist das hier nicht der siebentausendste Text zum DaDa-Jubiläum geworden, sondern ein Bericht von Zwischenzonen der Lebendigkeit.

Ja, der Titel ist ein Zitat von Hugo Ball, der damit die von ihm mitbegründete Spielwiese «DaDa» zu beschreiben versuchte. Keine Ahnung, wie der Immobilienmarkt anno Weltkrieg eins in Zürich gewesen ist, ob es damals «Zwischennutzungen» gegeben hat – jedenfalls ist es heutzutage kaum denkbar, dass eine Gruppe revolutionär eingestellter Persönlichkeiten aus so ziemlich überall im Niederdörfli: a. ein Szenelokal bekommt, und b. nicht innerhalb von dreieinhalb Sekunden von Grenadierbullen aus der Stadt geworfen wird, denn wie man in der Zwinglistadt Turīcum so schön zu sagen pflegt: «Erlaubt ist, was nicht stört.»

Auch wenn letzteres Bonmot glücklicherweise keine grössere regionale Ausbreitung erleben durfte, so könnte man sagen, ist diese Scheisse doch längst als Gesamtpaket zum Wahrheitsregime von Standortfaktor und liberaler [sic!] Regierungskunst geworden.

Dies betrifft die Saitenregion gleichermassen: ein subtiler Krieg der Räume kombiniert mit Erlaubnisterror und dem lebensfeindlichen Gebot, «niemals zu stören», ist auf der kulturellen Ebene evident und ernstzunehmen. So fällt auch ins Auge, wie hochnotgrotesk derzeit ein omnipräsenter DaDa-Geburstag anmutet. Die Buffonade wird aufgelöst in historisierender Ernsthaftigkeit und die Totenmesse zum Schenkelklopfer.

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Szenenwechsel i.d.S., von der Metaebene ab in die Zwischenzonen, namentlich in diejenige mit ebendiesem programmatischen Titel, welche sich erfrecht, pünktlich zum Jubiläum in einer veritablen Messe DaDa zu beerdigen – weil: «100 Jahre sind genug» –, um gleichzeitig schwer-buffonesk den darum notwendigen «Gugusismus» auszurufen. Nicht wirklich Stadt, sonst aber irgendwie auch nicht viel ist dieses Heerbrugg, sagen zumindest Leute, die es wissen müssen, und doch findet sich gegenüber von Betonwüste, zwischen Kebabjoint und TT-Bar (höhö) im ehemaligen «Sternen» eine Antithese, die sich gewaschen hat.

Die vom Widnauer Künstler Kuspi 016 (dem man eigentlich im Mindesten ein ganzes Heft widmen müsste) proklamierte Kunstform des Gugusismus beschäftigt sich in kynischer Weise mit Motiven der Vergänglichkeit und genau darum mit Lebendigkeit, die ihre perfekte Allegorie in eben dieser Zwischenzone findet: ein wunderhübsches altes Haus umstellt mit Bauvisieren, das vielleicht schon Anfang März irgendeiner rentablen Bausünde weichen muss, und in der Zeit dazwischen von einer Gruppe sehr sympathischer Leute bespielt wird. Und dadurch mehr «lebt», als man es von irgendeinem nicht-tot-geschriebenen Bau gewohnt ist.

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Kuspi 016 sagt Gugus.

Pünktlich zur vollen Stunde dringt der Gugusismus in Form von Soundinterventionen einige Minuten auf die Strasse und hinterlässt einen als vermeintlichen Passanten positiv verwirrt. Im Hochparterre, wo die Musik herkommt, findet man sich in einem Kuriositäten-Kabinett (gestaltet u.a. vom Skulpturkünstler Paul Müller) wieder: Da sind Titelseiten von Gala («Grosse Gefühle 2015»), Adel heute («Charlene – wird 2016 ihr Schicksalsjahr») und In Touch («Ist sie wieder schwanger?») ausgestellt, eine mit Gaffatape zensierte verzierte Videoinstallation von Sareena und DiEule zeigt ein historisches Fussballspiel und anschliessend einen rennenden Hund mit rötschem Fell.

Die Welt steht nicht Kopf, hängt aber quer – als Globus an der Wand. Die beiden oberen Stockwerke zeigen klassischere Ausstellungen, wobei «klassisch» das fälscheste Wort ist, um die anregenden Werke von Jasmin Véron, Kuspi 016, Sandro Heule und Simon Kness zu beschreiben, aber ja, da sind auch Gemälde, und die sind allesamt sehr sehenswert. Sogar der Kleiderständer im Treppenhaus ist ziemlich Duchamp.

Kuspi’s aktionistische Performance beginnt erst mit Musik unterlegt, steht unter Schnullerzwang und lernt dem phantasielosen Volksmund Mores und dem Schreibenden neue Worte: «Kellerficker! Antiseptikum! Hinterthurgau! Frikadellensalat! Linguistikproblem! Surrealistennutte! Tigerente! Wertsverarschung! Heilandsversteher! Trottelcomputer! Nazischwein! Oralstimulationstabletten! Kuhfladenpilz! Stinkgüggel!»

Auf das Kommende eingestimmt folgt die Ansage: «Ihr seid Zeugen! Gugusismus! Jede lebende Bakterie, alles was lebt ist und bleibt KünstlerIn! Auch das künstliche Leben ist frei! Kein Gesetz darf die Kunst in Zwänge und Muster drängen! Das Zeichen des Gugusismus ist der Schnuller! Lutscht euch frei!»

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Die Zuschreibung «Dorforiginal» stört Kuspi kein bisschen, doch ist diese Rolle eher Performance als Introversion. «Man muss offen bleiben in diesem Tal, sonst geht man unter». Und offen ist Kuspi auf jeden Fall. Der Autor von Dialektbüchern versteht dieses «Gugus» denn auch weniger unter der Bedeutung von «Bloscht», sondern eher in der Kindersprache, ein Aufmerksamkeit heischendes «Guguseli!», und ohne nur niedlich zu sein, liegt darin eine ungeheure Kraft, etwas Verspieltes und Kämpferisches. Dieser Künstler spricht vom Leben überhaupt und hat etwas Rares darüber zu sagen.

Der Verein Zwischenzone bespielt den ehemaligen «Sternen» voraussichtlich noch bis Ende Februar und plant, solches an anderen Orten wieder zu tun. Spricht Mitinitiant Sandro Heule von den leuchtenden Augen, die ihm in der Zwischenzone so häufig begegnen, und kommt dabei selbst bei aller Bescheidenheit ins Schwärmen, demonstriert dies auf der ganzen Linie das allgemeine Bedürfnis nach solchen schwer definierbaren Gegenorten; der Notwendigkeit, verspielten Impulsen nachzugeben und sich – egal wo – lebendige Zwischenzonen zu erkämpfen.

Heute Abend duellieren sich übrigens Klangforscher und Bademeister im lauschigen Darkroom der Zwischenzone.

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