, 6. Juni 2016
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Dans-Boek 6: Durch die Stadt wühlen

Schauspielerin Jeanne Devos ist als Artist in Residence von Appenzell Ausserrhoden seit Anfang Mai in Brüssel. Hier ihr sechstes Wochen-Tagebuch für Saiten.

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2011 habe ich im Kinderstück am Deutschen Nationaltheater in Weimar einen Maulwurf gespielt. Maulwürfe sind bekanntlich kleine seltsame Tiere, die schlecht sehen und sich mittels ihrer schaufelartigen Riesenhände durch die Erde wühlen.

Das Stück hat sowohl den Kindern wie auch mir ziemlich viel Spass gemacht. Als dann aber der damalige Intendant meinte, dies wäre wohl die Rolle meines Lebens, wurde ich doch ein wenig unsicher, was meine Physiognomie und meine Gesamtausstrahlung betrifft.

Seitdem scheint mich dieses Tier irgendwie zu verfolgen.

2016 bin ich in Brüssel auf einem Konzert, und vor meinen Augen spielt eine Band von Maulwürfen ziemlich gute Musik. Natürlich sind es keine echten Maulwürfe, sondern Musiker, welche sich verkleidet haben. Es ist ein berauschender Abend im «Brigittines» – einer alten Kirche, die vor ein paar Jahren zum Veranstaltungsort umfunktioniert wurde.

Vielleicht sollte ich den Maulwurf zum Vorbild nehmen und mich in dieser Woche noch mehr in die Stadt hinein graben. Zeit hätte ich. Ab der zweiten Hälfte der Woche gibt es abgesehen vom tänzerischen Morgentraining nichts zu tun.

Im Reich der Rollkoffer

Der erste Teil der Woche gilt allerdings der intensiven Vorbereitung von Texten, welche ich in einem Aufnahmestudio in Brüssel für die Sendung «Passage» auf SRF2 Kultur einlesen soll. Es sind Gedanken, Notizen und Bemerkungen über Klatsch und Tratsch unter Höflingen sowie Naturbetrachtungen. Verfasst wurde dieses «Kopfkissenbuch» von einer jungen Edeldame am kaiserlichen Hof in Japan in der Zeit um 980. Die Dame hiess Sei Shonagon und war berüchtigt für ihre spitze Zunge, ihren Witz und ihre Schlagfertigkeit. Würde sie heute leben, wäre sie sicher eine Bloggerin.

Eigentlich wollte ich für die Aufnahmen nach Basel reisen. Aber die Leute vom SRF meinten, dies wäre zu aufwendig, und haben mir hier in der Stadt prompt ein Studio organisiert. Wow! Ob man das wohl auch mit kommenden Theaterproben so handhaben könnte?

Das Studio liegt in Schaerbeek, einem Aussenbezirk von Brüssel. Da ich den Rest des Tages frei habe und man eine Stadt zu Fuss bekanntermassen am besten auskundschaftet, entscheide ich mich gegen die Metro.

Verlässt man das türkisch angehauchte Schaerbeek und biegt in das EU-Viertel ein, sieht man riesige Glas- und Betonbauten, umgeben von wunderschönen Parks, durch die Scharen von Diplomaten ihre Rollkoffer ziehen. Man kommt sich vor wie am Flughafen unter freiem Himmel. Von da geht’s weiter auf den Boulevard Waterloo, welcher vielleicht mit der Bahnhofstrasse in Zürich zu vergleichen wäre. Würde man hier ums Eck biegen, käme man nach Matongé, einen Stadtteil von Brüssel, der vor allem von Afrikanern u.a. aus der früheren belgischen Kolonie Kongo bewohnt wird. Ich gehe weiter zum Kunstberg mit den vielen Monumentalbauten und Museen, die ich noch besuchen sollte, vorbei am touristischen Viertel rund um den Grand-Place mit dem Rathaus, das alle fotografieren wollen, bis ich schliesslich zehn Minuten später in die wundervolle Rue de Flandre einbiege. Hier ist mein Zuhause, welches zwischen dem trendigen Modeviertel Daensart und dem Fischmarkt mit seinem heftigen bunten Treiben liegt.

Die wichtigen Wörter

Das ist Brüssel: eine multikulturelle und weltoffene Stadt, deren Vielfalt ein charmantes Chaos der Gegensätze erzeugt. Und hier also grabe ich mich seit ein paar Wochen hinein in meinen Körper und durch den Sprachen-Wirrwarr hindurch. Überhaupt ist dies die Stadt der kurzen Wege, und man tut gut daran, sich nicht allzu oft vom öffentlichen Verkehr abhängig zu machen. Es kann gut passieren, dass drei Busse derselben Linie kurz hintereinander fahren, und man danach eine Viertelstunde oder länger auf den nächsten warten muss. Die Wörter «Déviation» (Umleitung) und «Grève» (Streik) gehören hier genauso zum Alltag wie die generelle Unpünktlichkeit der Brüsseler. Für eine Schweizerin mit gutbürgerlicher Kinderstube: schwierig!

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Jeanne Devos, in Heiden aufgewachsen, hat Schauspiel in Bern und Zürich studiert, war 2010-2013 am Deutschen Nationaltheater Weimar engagiert und ist seither als freischaffende Schauspielerin tätig. In «Hamlet», der Eröffnungspremiere der Spielzeit 2016/17, wird sie als Gast am Theater St.Gallen zu sehen sein. Sie berichtet auf saiten.ch bis zum Sommer im Tagebuch «Dans-Boek» aus Brüssel.

 

 

 

 

 

 

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