, 16. September 2014
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Reithalle und andere Plätze II: Das perverse Sommerleben

Einige hochnotwendige Erörterungen über Soziopathie lauter und leiser Prägung zwischen Kantonsstrasse und Piazza.

Wohnt man auf dem Land, hat man seine Ruhe und kann laut sein. Wohnt man hingegen in der Stadt, nimmt man einen urbanen Lärmpegel in Kauf, muss aber pünktlich um 22 Uhr die Klappe halten. Ersteres ist praktisch: In erstaunlicher Ungestörtheit kann man Instrumente üben, tanzen und bis spätnachts angeregte Gespräche führen im Freien, insofern ist das Land ein äusserst lebensfreundlicher Ort. Man gönnts den Bewohnerinnen solcher Räume, stören tun sie damit höchstens Fuchs und Hase.

Umso absurder ist die urbane Variante. Man fragt sich nicht zu unrecht, warum ausgerechnet an Orten, wo besonders viel «gelebt» wird, immer weniger «gelebt» werden darf. Um das gleich vorwegzunehmen, die Rede ist nicht von einer Brühlgassisierung der Stadt, allerdings sehr wohl von terrorverwandten Ruhebedürfnissen einiger Einzelpersonen, die ihre Freizeit gerne zwischen zurückgezogenem Vorhang und Telephon verbringen. Die Rede ist damit auch von einer stark übersteigerten Rechtsinterpretation seitens der ausführenden Gewalt. Die Rede ist vom KuGl und anderen lärmklagegeplagten Lokalen.

Gerade in den Sommermonaten, wo es vorkommen soll, dass Stadtbewohnerinnen und -bewohner zwischen zwei halbspektakulären Grillfesten das dreiste Bedürfnis nach sozialer Interaktion verspüren, ist die Gefahr einer lärmbedingten Klage latent. Ausnahmsweise erfriert man draussen mal nicht sofort, und indem man sich so für den lieben Nachbar sichtbar macht, erhöht man die Chancen auf eine Reklamation massiv.

Das sieht zum Beispiel so aus: Neben Strassen, die auch nachts von lärmemissionsintensiven Fortbewegungsmitteln befahren werden dürfen, erfrecht sich eine Handvoll Kulturbedürftige, den freien Abend mit der Einnahme von hopfenhaltigen Kaltgetränken abzuschmecken und dazu unsäglicherweise Worte zu wechseln mit dem Tischnachbarn. Möglicherweise dringen dazu noch ein paar tatverdächtige Gitarrenklänge ins Freie. Die telefonische Klage, eine Beschäftigungstherapie für den Beamtenapparat ist damit schon fast perfekt.

Die kleinere Gastronomie, die sich kein Sommer- loch leisten kann, wird so zum Public-Enemy-No. 1. Dass diese unlösbar mit dem lokalen und überregionalen Kulturschaffen verknotet ist, ja gar dessen Vorbedingung sein kann, geht dabei vergessen. Und dass damit nicht nur die vielbesungene Attraktivität des Standorts geschädigt, sondern der Lebensraum in summa torpediert wird, kommt niemandem in den sonst so liberalen Sinn. Wer dann einwendet, dass Gesetze, die kannibalischem Herumschreien in den Nachtstunden den Riegel schieben sollen, auf diese Weise dazu hin verscho- ben werden, die urmenschliche Begabung zu oralem Aus- tausch zu verhindern, wird polemisch abgewatscht.

Dies lässt ein paar nüchterne Forderungen zu: Die Policey, ursprünglich eine wissenschaftliche Disziplin, verantwortlich für das «grösstmögliche Glück» des Menschen im Sinne der Staatsraison, muss dringend wieder lernen, zwischen volonté générale und Misanthropie zu unterscheiden. Anwohnerinnen und Anwohner sollten sich vor dem Griff zum Telefon fragen, ob sie damit einem Borderline-Egoismus huldigen oder tatsächlich ein relevantes demokratisches Recht einfordern. Die Bevölkerung muss sich damit auseinandersetzen, wie man das städtische Zusammenleben begehen könnte auf der Skala zwischen komatöser Isolation und trunkenem Kriegsgeschrei. Und von der instituierten Politik wäre es schön, etwas mehr zu hören (dies dürfte richtig laut sein).

An der Causa KuGl kann man somit sehen, dass die fehlende Eventhalle mittlerer Grösse, über die im September abgestimmt wird, nicht das wesentlichste kulturelle Problem St.Gallens ist. Wenn man am Güterbahnhof Theater machen kann wegen ein paar schlangestehenden (also gesitteten) Leuten, dann wäre das fast überall sonst auch so. Damit wäre Kultur nur noch in den reinen Industriezonen willkommen. Im Gegenextrem, worin man nur noch in den reinen Wohnzonen wohnen könnte, spiegelt sich diese hirnrissige Tendenz ideal.

Kultur und sozialer Austausch sind zwingende Bestandteile der innerstädtischen Mischzonen. Beginnt man dies zu pervertieren, stehen wir vor einer individuellen wie kollektiven, juridischen wie politischen Grundsatzfrage: Wie wollen wir (zusammen) leben? Und vor allem: wo?

Heute Abend im Palace:
Stadtgespräch 1: Die Reithalle und andere Plätze
Tür: 19.45 Uhr, Beginn: 20.15 Uhr
Mit Etrit Hasler (Initiant), Corinne Riedener (Saiten-Redaktorin), Dani Fels (Raumforscher). Moderation: René Hornung (Journalist)

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