, 17. Mai 2013
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Der faulende Bürostuhl (III)

Fünf Jahre ist es her seit der Dernière im alten Espenmoos. Was ist geblieben von jenem 20. Mai 2008? Im Fall unseres Autors der alte Stuhl aus einem Kassahäuschen. Hier der dritte, letzte Teil seiner Erinnerungen.

Ich blieb auch während der letzten Saison auf der Südkurve, nur oben links statt oben rechts. Wir waren nun eine grössere Gruppe, darunter ein Mädchen, in das ich verschossen war wie nachher vielleicht in keines mehr. Wahrscheinlich deshalb habe ich heute das Gefühl, dass die Heimspiele in der letzten, traurigen Saison im Espenmoos allesamt an lauen Sommerabenden stattfanden. Abende, an denen wir mit dem Velo zum Bahnhof fuhren, in kurzen Hosen den steilen Hang zur Südkurve hinauf hetzten, kühles Bier tranken. Abende, die leicht, klar und hell schienen wie ein Eagles-Song.

Auf der Tribüne stellte ich mir dann vor, wie es wäre, das Mädchen vor mir bei jedem St. Galler Treffer zu küssen – die Paare nebenan machten das so; wir aber klatschten uns weiterhin ab. Wenigstens schoss Grün-weiss in jener Saison sowieso nicht viele Tore. Das beste Beispiel dafür war der allerletzte Match im Espenmoos.

20. Mai 2008, FC St. Gallen – AC Bellinzona, 0:2.

Verdammt, dieser lange Sommer sollte so vieles einlösen – den Ligaerhalt, die Erstklassigkeit, die erste richtige Freundin. Und an diesem Dienstagabend konnte so viel davon schon kaputtgehen. Am Samstag davor hatte St. Gallen im Tessin das Hinspiel der Abstiegsbarrage mit 2:3 verloren. Ein verkraftbares Resultat, immerhin zwei Auswärtstore, sagten wir uns.

Mich beschäftigten neben dem bevorstehenden Spiel zwei Dinge: Was ist das passende Souvenir? Und: Kommt es tatsächlich zu grossen Ausschreitungen, wie die Zeitungen und das Fernsehen berichteten? Ich erinnerte mich an ein Spiel vor Jahren gegen Schaffhausen, in dem es eigentlich um nichts ging – nach dem der Frust einiger St. Galler Rabauken aber dennoch riesig war. Auf dem Bahnhof St. Fiden rammten sie eine Metallstange in den Thurbo-Zug der Gästefans. Die Scheibe zerbrach, so was hatte ich noch nie gesehen. Später waren wir in der Bahnhofsunterführung eingeschlossen zwischen zwei Fanlagern.

Gegen Bellinzona überwog aber vorerst die Hoffnung, nicht der Frust. St. Gallen war aufsässig, versuchte den Gegner zu dominieren. Nach der ersten Halbzeit lag das Team von Krassimir Balakov – ein Mann, dessen Idee von Fussball ich nie richtig verstand – aber mit 0:1 hinten. Fünf Minuten vor Spielende liefen siebzig Polizeigrenadiere auf, die Kurve tobte und die Espen mussten in der Nachspielzeit noch ein zweites Tor hinnehmen. Am andern Tag war der junge David Marazzi in allen Zeitungen – das Leibchen über den Kopf gezogen. In der Schärfentiefe des Bildes breitete sich die ganze Trauer aus.

Während dieses Bild entstand, verliessen wir das Espenmoos – noch bevor es die Chaoten eingenommen haben. Einige aus unserer Gruppe sicherten sich ein Stück Rasen, das sie zu Hause im Garten einsetzen wollten. Andere nahmen einen grünen Sitz von der Gegentribüne mit – ich holte einen alten Bürostuhl aus dem Kassahäuschen. Als ich ihn später begutachtete, merkte ich, dass er gerade so gut aus dem Lager einer Industriefirma oder vom Estrich der Grossmutter hätte stammen können.

Nicht einmal ein FCSG-Logo trug er.

Wir sassen am Bahnhof St. Fiden und hatten die Laune eines Bären, der aus dem Winterschlaf geweckt wird. Die Stühle aus dem alten Stadion waren das einzige, an das wir uns klammern konnten. Mein Verein hatte in den Jahren, die ich miterlebte, gerade eine Art Verringerungslauf absolviert – vom Titelanwärter zum Absteiger.

Der Sommer 2008 sollte mein Sommer und der des FC St. Gallen werden, am Ende blieb dem Verein ein ätzendes Ende im Espenmoos und mir ein gierender Bürostuhl, der bald im Keller vor sich hinfaulen sollte.

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