, 20. März 2017
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Die Schweiz und die «Überfremdung»

Cenk Akdoganbulut hat sich in seiner Masterarbeit mit dem Überfremdungsdiskurs in der Schweiz ab 1970 befasst. Diesen Donnerstag ist der St.Galler Historiker «Schalter»-Gast im Konsulat an der Frongartenstrasse und berichtet von seinen Foschungen.

Bild: Ladina Bischof

Haben Sie sich auch schon gefragt, warum gewisse Parteien in der Schweiz mit Begriffen wie «kulturfremde Einwanderer» oder «nicht-europäische Kulturkreise» hantieren und wie diese im öffentlichen Diskurs salonfähig wurden? Wissen Sie, was mit «Assimilationsunfähigkeit» gemeint sein soll? Oder mit «nicht-schweizerischem Verhalten»?

Cenk Akdoganbulut ist diesen Fragen in seiner Masterarbeit «zur Konstruktion des Fremden im Rahmen der schweizerischen Überfremdungsinitiativen von 1970–2000» nachgegangen (hier mehr dazu). In einem ersten Schritt trug er die Argumente der Initianten in den Abstimmungskämpfen zusammen, danach analysierte er deren ideologische Prämissen und daran anknüpfend untersuchte er, was am «Fremden» und an der «Überfremdung» als problematisch angesehen wurde – und nach wie vor angesehen wird.

Biologistisch-rassistische Denkmuster

Der Philosoph und Historiker präsentiert eine leidige Geschichte. Nachdem die erste «Überfremdungsinitiative» der Demokratischen Partei der Schweiz in den 1960ern zurückgezogen wurde, witterte die Nationale Aktion 1970 ihre Chance und lancierte mit James Schwarzenbach die zweite Überfremdungsinitiative. «Die Initianten argumentierten dabei auch mit biologistisch-rassistischen Diskursmustern», schreibt Akdoganbulut über den Abstimmungskampf. «Sie gingen von biologischen Volks- und Rassekonzepten aus. Ausländer wurden ohne Unterschied als assimilationsunfähig charakterisiert.» Dieses Denkmuster habe die theoretische Basis für die Problematisierung der Einwanderung gelegt, denn es habe die Vorstellung genährt, dass die «Fremden» im Land auch noch Generationen später «fremd» bleiben würden.

Wäre die Schwarzenbach Initiative damals angenommen worden, hätten 300’000 bis 400’000 Menschen – vor allem Italienerinnen und Italiener – das Land verlassen müssen. In den Jahren danach wurden weitere Initiativen lanciert, aber allesamt abgelehnt. Die Überfremdungsbewegung verlor daraufhin an Schwung, hält Akdoganbulut fest, auch wegen personellen und parteilichen Zerwürfnissen.

Pronto: Am 23. März um 18 Uhr ist Cenk Akdoganbulut Schaltergast im Kulturkonsulat an der Frongartenstrasse 9 in St.Gallen. Er berichtet von seinen Forschungen und beantwortet Fragen zum Thema.

Über die letzte namentlich so bezeichnete «Überfremdungsinitiative» wurde 1988 abgestimmt. In dieser Zeit hat sich der Diskurs auf neue Schwerpunkte verlagert: «Die Asyl- und Flüchtlingsthematik wurde virulent.» Ferner, schreibt Akdoganbulut, sei eine Kulturalisierung der Debatte feststellbar. «Es war kaum mehr die Rede von Völkern, schon gar nicht mehr biologischen, sondern immer öfter von Kulturen.» Drittens habe man den Begriff «Überfremdung» vermehrt gemieden, möglicherweise als Reaktion auf die Abstimmungsniederlagen. «Der Begriff könnte eine negative Konnotation erhalten haben, die ihn mit der Schwarzenbach-Initiative und der damaligen extremen Polarisierung der Gesellschaft assoziierte.»

Hierarchisierung nach Herkunft

Auch 12 Jahre später, im Jahr 2000, wollten es die Initianten der «Initiative zur Regelung der Zuwanderung», auch 18%-Initiative genannt, vermeiden, «in der Nähe früherer Überfremdungsinitiativen verortet zu werden und bekundeten regelmässig ihre Distanz zu solchen Volksbegehren», schreibt der Historiker. Die personellen und argumentativen Überschneidungen hätten allerdings gezeigt, dass Philipp Müllers Initiative durchaus auch als Überfremdungsinitiative charakterisiert werden müsse. Einerseits, weil die Schweizer Demokraten, die Nachfolgepartei der Nationalen Aktion, sofort ihre Unterstützung zusicherten, andererseits, weil die Forderung identisch gewesen seien mit jenen der vorangegangenen «Überfremdungsinitiativen»: ein verfassungsmässig festgelegter Ausländerhöchstanteil. Und: Neu sollten auch Geflüchtete in den Ausländeranteil miteinbezogen werden.

Argumentativ blieb der Abstimmungskampf wie gehabt kulturalistisch. Man ging weiterhin von einer «Assimilationsunfähigkeit» aus – allerdings nicht mehr bei allen: Im Gegensatz zur Schwarzenbach-Initiative unterschied man nun europäische von nicht-europäischen «Kulturkreisen», schreibt Akdoganbulut. Dadurch habe man die Einwanderergruppen hierarchisiert; «kulturnahe», also europäische «Fremde» hätten als assimilationsfähig gegolten, anders als die nicht-europäischen, «kulturfernen» Einwanderer aus Jugoslawien, der Türkei und aus Afrika. «Während bei der Schwarzenbach-Initiative also keine Selektion innerhalb der Einwanderergruppen stattfand, formulierten die Initianten im Jahr 2000 eine auf die Herkunft abzielende Präferenz.»

Was in den 70ern den Italienerinnen und Italienern nachgesagt wurde, galt jetzt in ähnlicher Weise für die Asylsuchenden: Sie wurden pauschal als «unqualifiziert» gemäss ihrem sozio-ökonomischen Status beurteilt, hält Akdoganbulut fest. «Somit diente der Überfremdungsdiskurs auch der Ausgrenzung ausländischer Fremdarbeiter beziehungsweise der Privilegierung der einheimischen Arbeitnehmer. Ebenso wurden Kriminalität, insbesondere Drogendelinquenz mit Ausländern konnotiert. Unverändert geblieben ist die Charakterisierung der männlichen Einwanderer als Frauen belästigende, triebgesteuerte Ausländer.»

«Echte» Schweizer vs. «Papierlischweizer»

Auch die 18%-Initiative wurde – trotz anderslautenden Prognosen – abgelehnt. Was nicht heisst, dass heutzutage nicht mehr biologistisch und kulturalistisch argumentiert wird, siehe Thilo Sarazin, Marcel Toeltl und Konsorten. Das sieht auch Akdoganbulut so: Im Fazit seiner Arbeit verweist er etwa auf die im Schweizer Politdiskurs immer wieder hervorgeholte Unterscheidung zwischen Schweizern und «Papierlischweizern» oder zwischen Schweizern und «Eidgenossen».

Vor allem die Kulturalisierung von Ethnien und Religionen erfreue sich derzeit enormer medialer Präsenz, hält der Historiker zum Schluss fest. Forciert würden solche Diskurse durch rechtspopulistische Parteien, die sich «im Westen» im Aufwind befinden; «zu nennen wären insbesondere Front National, Pegida, AfD, die Identitären und nicht zuletzt Trump». Das betreffe auch die Diskurse hierzulande. «So ist zu erwarten, dass die Einwanderungs- und Ausländerpolitik auch in der Schweiz – vor allem nach der Annahme der sogenannten Masseneinwanderungsinitiative – nichts an Brisanz verlieren dürften.»

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