, 1. März 2016
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Düster dem Alltag entkommen

Das Rheintaler Quintett bordeaux lip experimentiert auf dem Album «Compliments/Arguments» mit Klängen und Lebensgefühlen. von Tim Wirth

Die Schöne und das Biest, bordeaux lip, 2015 (Bild: Felix Schönberg)

Eine Blume, die Stille symbolisiert. Dieses Gewächs dann als Parfüm zu konservieren, von dem bei Bedarf immer wieder eine Nase voll genommen werden kann. Diese Fantasievorstellung – ein Refrain-Fragment des Lieds A Perfume – ist sinnbildlich für das erste Album Compliments/Arguments der Rheintaler Band bordeaux lip.

 

Die fünf Musiker Neil Nein (Ex-Loreley & Me), Andrey Müller, Adrian Küng, Kenshj Savary und Lucas Giger geben sich darauf der Alltagsflucht hin. Compliments/Arguments klingt verschroben und kaputt, nur selten melodisch und eingängig. Die musikalische Reaktion der Band auf das Leben ist düster. «Das war halt unsere momentane Stimmung», sagt Neil.

bordeaux lip sind fünf Mitzwanziger, die im Rheintal aufgewachsen sind und sich gemeinsam gegen die Fasnachtstradition stemmten. Heute leben sie in St.Gallen, Zürich und Winterthur.

Seit zwei Jahren machen die Weinlippen in dieser Formation Musik. Ihr Bandraum in Altstätten zwischen einer Behinderteninstitution und einem Heim für schwererziehbare Mädchen sei eine inspirierende Umgebung.

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bordeaux lip: fünf «Typen, die am Türsteher gescheitert sind» (Bild: zVg)

Selber beschreibt sich die Band in ihrer Bio als «Typen, die am Türsteher gescheitert sind und hinter dem Club betrunken rumlärmen, während die coolen Kids drinnen zum Chartsound sich selbst geniessen».

Dazu passt auch, dass die Band an Weihnachten auf Facebook ein Bild des Rappers Pitbull postete – einfach nur, weil sie kein besseres Bild gefunden haben. «Es gibt kein schmierigeres Grinsen, das besser dafür steht, was mich am Mainstream-Zirkus nervt», sagt Neil.

 

Aufpolierter Garage-Sound

«Anti-Garage» nennen bordeaux lip ihren Stil. Also Musik, die mit Garage-Attitüde gespielt, aber aufgeblasen und poppig produziert ist. Aufgenommen wurde im Studio 21 in Winterthur mit dem Produzenten Johannes Eberhard.

Der Opener Sappy beginnt mit viel Gitarrengeschrummel und der durchdringenden, teils verstörenden Stimme von Neil Nein. Gitarre, Bass, Schlagzeug und Synthesizers sind gut aufeinander eingespielt.

bordeaux lip hat aber auch mit elektronischen Klängen experimentiert. «Wir haben Gläser, Ketten und andere Dinge – wenn ich mich richtig erinnere, sogar ein totes Tier – im Studio herumgeworfen und in die Beats eingebaut», erklärt Neil.

 

Viele Lieder von Compliments/Arguments haben eine lange Geschichte hinter sich. A Perfume, das fröhlichste und poppigste des ganzen Albums, hat Neil Nein als Teenager geschrieben und dann immer wieder verändert.

Das Cover des Albums zeigt eine Frau mit Rastas, die laut Nein Abstand, Ruhe und Einsamkeit symbolisiert. Eine Fantasiefigur brüllt die Frau an, der Hintergrund zeigt eine Ruine. Der Fotograf Felix Schönberg hat das Bild geschossen. In den Augen der Band symbolisiert es die gegensätzlichen Gefühle, mit denen alle kämpfen. Seien es sterbende Seefahrer (Loreley) oder die Ruhe (On the quiet), der Gegensatz wird mit Fantasiewelten thematisiert.

Der beste Song für die Band selbst ist Maybe Tomorrow, der sich mit verpassten Chancen und Zukunftsplänen befasst. «Andere Lieder kann ich schon gar nicht mehr hören», sagt Neil. Im Vergleich zu Loreley & Me, seinem früherem Projekt, klingt die Musik von bordeaux lip härter, mehr nach Rockband.

Trockene Liebesgedichte

Zwischen den einzelnen Titeln gibt es zwei Interludes. «Never less alone than when alone», verkündet eine Computerstimme. Die englisch rezitierten Gedichte, beide sehr romantisch, erscheinen durch diese Vortragsart plötzlich trocken und rational.

Im Hintergrund gibt es nerviges Pieps-Geräusch zu hören, das Weltraum-Assoziationen weckt. Zufällig hat die Band die Gedichte im Internet gefunden und mit einem Stimmübersetzter vertont. «Ich verstehe die Gedichte selbst nicht. Es gibt keine tiefere Botschaft», sagt Neil. Es sind Stücke, die niemand im Bus mit dem Kopfhörer hören will, so verstörend klingen sie – «die Ästhetik des Hässlichen», wie es die Band nennt.

Live: 4. März, Tankstell St.Gallen, 1. und 2. April, Sing&Play Festival, Flon St.Gallen.

Gegen Ende des Albums wird die Musik immer düsterer und gipfelt in ifeveryonesunique, das von fiktivem Drogenkonsum handelt. Diese zunehmende Düsterheit passt zum Konzept des Albums, zeigt aber auch, dass es in nur zwei Sessions aufgenommen wurde. Plötzlich ertönt die Stimme von Neil Nein tiefer: «Vielleicht habe ich da mehr geraucht und gesoffen», meint er.

Geradezu auflockernd sind die vier Remixes, die an das Album angehängt sind. bordeaux lip wollten ihre Songs auf ungewohnte Art umsetzen und haben dazu zwei Bekannte angefragt: Der amerikanische Produzent Slade Templeton hat zwei Stücke vertont und die garagigen Tracks zu elektronischen Klängen mit wuchtigen Beats verwandelt. Und Franz Schiepek hat aus Sappy ein weniger rohes, bluesigeres Lied gemacht.

Ganz am Schluss hat Neil selber einen Remix von A Perfume produziert. Als sich am Ende des Stücks die Stimme verzerrt und mit Pfeifgeräuschen mischt, ist die Musik mittreissend wie selten. Mittlerweile sei bereits ein Grossteil der Songs für ein zweites Album geschrieben, sagt Neil Nein. «Ich glaube, sie sind etwas glücklicher».

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bordeaux lip: Compliments/Arguments. bordeauxlip.com, weareananas.com

Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.

 

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