, 15. Mai 2017
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Eine Umwertung von Kulturverständnis und Sehgewohnheiten

Der Cirque de Loin ist neu mit einem Zelt unterwegs und verhält sich damit zum Raum, wie er sich zu Trennungen in den Kunstsparten verhält: radikal, grenzgängerisch und mit einer hübschen Dosis Attitude.

Szene aus Son Of A Fool. (Bild: pd)

«Heute ist DAS mein fucking Büro!», sagt Michael Finger vom Cirque de Loin und schüttelt dazu seinen Laptop mit der rechten Hand, als würde er «minchia!» sagen wollen. Er beantwortet damit die Frage, wie die für die Neubourgeoisie altmodisch anmutende Bühnenkunstform «Zirkus» sich zu der illusorischen Vorstellung von etwas «Zeitgemässem» verhalte. Die Gegenwart ist mobil und das Ressentiment doch so altbacken wie nur irgend möglich: Man braucht eine fixe Bude, dann ist alles
 klar. Allem Beweglichen muss mit Argwohn begegnet werden, so der schlaue «Volksmund». Heute tippt dieser das vermutlich in sein sehr bewegliches Smartphone.

Ressentiments und deren Spiegelungen

Bei «Zirkus» wird gewöhnlich an bemitleidenswerte Tiere, fliegende nackte Körper und erwachsene Kinder mit Gesichtsbemalung gedacht. Der Cirque de Loin ist anders: Hat sich die Truppe inzwischen den alten Traum eines eigenen Zeltes realisiert, bedeutet das noch lange nicht Manege, Voltige und Marschmusik, sondern ein Bühnenbild mit jenischem Charme, durchwegs plebejischen Humor und eine Band, die selbst bei kindischen Nummern cooler ist als Patent Ochsner mit Element of Crime-Covers (dazu mehr im Juniheft von Saiten). 
Ein bisschen Punk liegt auch in der Luft, aber mehr im Sinn kompromisslosen Draufgängertums denn als Pauschalverurteilung einer vermeintlichen Verschwendung jugendlicher Energie.

Fingers Leute sind Durchquerende, und manchmal – wenn die Prinzessin im Kasperlitheater dem faulen Räuber sagt, wo es lang geht – auch höchst queerende; offensichtlich machen sie auch vor der sesshaften Ostschweiz keinen Bückling. Sind wir ehrlich, das wollen wir doch auch nicht: Wir könnten dem Ressentiment folgend spintisieren von egoistischen Fahrenden, die an unser mühsam sesshaft Erspartes wollen (was einiges über uns sagen würde) – oder aber aufhorchen: Es gibt Menschen, die im Vorbeigehen genau da Räume schaffen, wo wir sie immer vermissten. Dass der schlimme Finger auf der Kreuzbleiche extra eigene Toitoi-WCs organisieren muss, weil sonst die fucking Rössli in der Reithalle sich unwohl fühlen würden, passt perfekt ins Schema des Lokalen im und um den locus.

Das plebejische Theater der Strasse

Nochmals von vorn: Michael Finger, der 
mit einigem Enthusiasmus und erschreckendem Tiefgang meine doofen Fragen beantwortet, dies in einem hübschen kleinen Wohnwagen neben dem Zirkuszelt beim Pestalozzi-Dorf in Trogen, von wo die ganze mittelvorderländische Suhle überblickt werden kann, hat zum Beispiel einmal im Tatort mitgespielt. Davon träumen sogar Leute, die Kunst scheisse finden. Er wird auf solche Jobs aber gar nicht allzu gerne angesprochen und engagiert sich stattdessen für Anliegen, die nicht nur Kinder lieben, aber die checken sowas eben schneller. Dissidenz, Humor und andere künstlerisch-revolutionären Stilmittel verbinden Welten, gehen aber deutlich auf Distanz zu feuilletonistischer «Hochkultur», so diese hiesse: «Immer nur ein Spärtchen auf einmal.»

Der Schauspieler und Regisseur Finger, nach Mitwirkung in etlichen Kinofilmen, einigen Regiearbeiten in der freien Szene, begonnen im Zirkus Chnopf 2002, ist nach einem erfolgreichen Kinofilmdebut 2006 mit bersten Ende der Nullerjahre
 auf der Suche nach einem Strassenzirkus als Kulisse für seinen zweiten Spielfilm.

Estival:
17. bis 20. Mai, Pestalozzi-Dorf, Trogen
25. Mai bis 17. Juni, Kreuzbleiche St.Gallen
7. bis 9. September (Tourneeabschluss), Flötzli Lichtensteig
cirquedeloin.ch

Aus dem Zirkus Chnopf heraus bildet sich darauf die Cie Cirque de Loin, Protagonistin im Film Son of a Fool, der, auf der Tournee 2013 gedreht, nun im neuen Zelt zur Uraufführung kommt. Mit dem etwas anderen Kinderstück TKK – The Kasperli Kommbäck, woran auch Erwachsene  
ihre Freude finden werden, dem sehr körperlichen Zirkus-Theater Mendrisch und dem Anti-Musical Ronamor – The Wedding Concert (allesamt St.Galler Premieren) ergibt sich so eine erste Ausgabe des eigens initiierten Estivals, einer «Umschulung von Kulturverständnis und Sehgewohnheiten» mit der Absicht, der freien Szene im Osten ab dem kommenden Jahr Raum zu bieten im Chapiteau des Cirque
de Loin.

Schon der Revolutionär Lenin räumte dem Zirkus als wichtigste proletarische Kunstform einen besonderen Stellenwert ein, in Ländern wie Kuba geniesst dieser hohen Respekt als «Theater der Strasse». Doch reicht es, nur schon ins Nachbarland Frankreich zu schauen, wo es völlig normal sei, dass Strassencrews mit den Institutionen ohne Berührungsängste zusammenarbeiten, um festzustellen: Der kulturelle Klassismus der Bourgeoisie hat sich in der ohnehin beweglichen Gegenwart überholt. Die ungeheure Vielseitigkeit, welche die Compagnie um Finger in diesem Sommer demonstriert, lässt den unbedingten Nutzen dicker Betonmauern definitiv bezweifeln.

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