, 16. Dezember 2016
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Grandiose Kuhschweiz

Das Theater St.Gallen spielt «Das Schweigen der Schweiz» – fünf Uraufführungen von Andreas Sauter, Sabine Harbeke, Daniela Janjic, Philippe Heule und Maxi Obexer ergeben in der Lokremise einen wechselvollen Schweiz-Abend.

Abendverkauf im Advent: Auf der St.Galler Marktgasse gibt es Föteli mit dem Pseudo-Samichlaus von Coca Cola, die Schlange reicht bis hoch zum Bärenplatz. Ein paar Schritte weiter halten Menschen Mahnwache für den Frieden und für Syrien. Dann die nächsten Glühweinschwaden. Konsumirrsinn und Kriegsirrsinn, shoppen und schweigen: Das ist unsere Lage.

Die bleibt unübersichtlich, auch in der Lokremise, am gleichen Abend: Hier hat Das Schweigen der Schweiz Premiere, die Uraufführung von nicht weniger als fünf Kurzstücken von jungen Autorinnen und Autoren zur «Lage der Nation». Schauspieldirektor Jonas Knecht löst damit seinen Anspruch ein, aktive Autorenförderung zu betreiben und hiesige Stoffe zu verhandeln. Im Publikum viel Volk, darunter Knechts Vorvorvorgänger Peter Schweiger. Auf der Rundbühne: zwei Spielerinnen und zwei Spieler in wechselnden Rollen (Anna Blumer, Sarah Hostettler, Hans Jürg Müller, Dimitri Stapfer)  sowie ein Hüsli mit Kunstrasen auf dem Schrägdach und aufgemalten Fenstern.

Hans Jürg Müller und Dimitri Stapfer sind «parat». (Bilder: Tanja Dorendorf)

Parat fürs Reduit – ratlos in der WG

Das «falsche Chalet», das Ausstatterin Prisca Baumann innen erst noch schallisoliert hat, ist den als Hüsli getarnten Bunkern nachempfunden, die überall noch in den Alpen herumstehen (der Fotograf Christian Schwager hat sie 2004 dokumentiert). Ein Sinnbild des Reduit-Geists – und der schlägt beim ersten der fünf Stücke dann auch gleich voll durch. Der in Berlin lebende Andreas Sauter hat das einzige Mundartstück des Abends geschrieben: Parat  oder Nienedmeh isch nüd. Zwei Männer, Beckett-Spätlinge, suchen ein Wiesenstück, um eine unterirdische «Reduit»-Wohnung zu graben, eine Höhle «für alle Fälle», falls «sie» kommen: «Aber wer genau?» – «D EU» – «Oder die… halt… Die andere… wo…» – «Welli?» – «Alli».

Wer auch immer kommen mag, parat sein ist alles: ein wunderbar komödiantischer Auftakt.

Nahtlos verwandelt sich das Bunkerhüsli  mit dem Rasen-Tarndach darauf in eine WG. Teils scharfsichtig, teils bemüht ringen drei Personen hier um die Frage, ob man einen Flüchtling in das leerstehende WG-Zimmer aufnehmen soll. Sabine Harbeke unterfüttert ihr WG-Palaver kalter hund mit Hintergrund zur direkten Demokratie und zum System der Gemeindeversammlung.  Die Moral gibt zu denken – wie soll das Volk komplexe Grossthemen per Abstimmung bewältigen, wenn es schon zu dritt im trauten Heim mit der Basisdemokratie hapert? Theatralisch aber bleibt das Stück spröd – vom Hund abgesehen.

Aufstand der linken Kühe

Nach der Pause wird das Hüsli zum Stall. Drin muhen vier Kühe mit seltsamen Namen, wir kennen sie, weil sie Namensschilder und Mikrofon vor sich haben wie an einer Pressekonferenz. Drei der Kühe, Diana, Academy und Zenzi, sind im Aufruhr, nachdem Bella, die vierte im Bund, sich für eine Homestory hergibt mit einem Fotografen und Verfechter der Zäune. Posieren für eine Kuhschweiz, die Zäune baut? Die Kühe mampfen, grochsen, muhen und schellen, sie käuen in hartleibigem helvetischem Hochdeutsch Sätze wieder, die man aus Politdebatten kennt, sie käuen wieder und wieder, und schnell ist klar: Da ist eine Rebellion der Kühe im Gang, gegen die «elenden Traditionalisten», für die Allmende, gegen Gruppendruck und Herdentrieb von rechts.

Gegen Ende zündet Schauspieler Dimitri Stapfer einen minutenlangen  Beatbox-Battle, lässt Hubschrauber wirbeln und MGs knattern. Mit dem Alpenfrieden ist es vorbei, der akustische Krieg bringt Bella um und versetzt das Publikum in Ekstase. So viel Kuhwitz war nie auf einer Theaterbühne.

Einen «saTierischen Schwank»  nennt die bosnisch-zürcherische Autorin Daniela Janjic im Untertitel ihr Stück Philosophische Kühe – Mountains of Kuhtopia.  Janjic ist mit Migrationsthemen biographisch vertraut; in diesem Kurzstück rettet sie sich mit Ingrimm in die Satire. Und das vierköpfige Ensemble, das alle fünf Stücke verwandlungsfreudig meistert, lässt die Stallbretter beben, das Publikum bleibt erschöpft vor Lachen zurück.

Groteske Kuhtopie mit Stapfer, Blumer, Hostettler und Müller (von links).

Roger kommt nicht

Dem grandiosen Kuhtheater kann das Finale die Stange nicht ganz halten. Es folgt, verfasst vom St.Galler Autor Philippe Heule, eine klamaukige TV-«Gala» für Tennisstar Roger Federer (nein: Roger kommt nicht, aber «auch ohne Roger ist alles Roger»). Ein polternder Kurzauftritt von Wilhelm Tell versetzt diese Klischeeschweiz aber definitiv ins Out.

Den Schluss macht eine Textcollage um die nigerianische Flüchtlingsfrau Samia, die in der Schweiz in den Untergrund gedrängt wird. Maxi Obexer hat ihr Stück aus Recherchen zusammengefügt, Regisseurin Sophia Bodamer lässt den politisch brisanten Text hörspielartig sprechen und mit Taschenlampen konspirativ ausleuchten – eindringlich, aber noch wenig theatralisch.

Der rote Faden durch alle fünf Stücke heisst, wenig überraschend: Abschottung, Ausgrenzung, Identitätssuche. Auf die rechtspopulistische Wende, die allenthalben im Gang ist, gibt das Stück zwar auch keine Antwort. Aber die Autorinnen und Autoren und die kluge Regisseurin finden starke Bilder, darunter das stärkste: Wenn selbst die Kühe auf die Hinterbeine stehen, besteht für die Kuhschweiz noch Hoffnung. Und wo das Theater so markant Vielfalt demonstriert und praktiziert, muss man noch keine Angst vor Monokultur haben.

Weitere Vorstellungen: theatersg.ch

 

 

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