, 6. April 2017
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«Ich denke, dass diese Kleider mit unserem Blut produziert werden»

Weltumspannende Konzerne, horrender Umsatz und menschenunwürdige Arbeit: «The True Cost» ist ein bedrückender Dokfilm über die wahren Modeopfer. Nächsten Dienstag wird er im Kinok gezeigt.

Shirts für 10 Stutz: Alltag, nicht nur beim Ausverkauf. (Bilder: co)

Man weiss es eigentlich: dass ein T-Shirt nicht gleich viel kosten sollte wie ein Sandwich. Man weiss auch um die Arbeitsbedingungen der Näherinnen in Bangladesch und anderswo oder um die massiven Schäden an Mensch und Umwelt durch gentechnisch veränderte Baumwolle und flächendeckende Pestizidduschen.

Weiss man alles, wird aber gerne verdrängt. Besonders jetzt, wo auch in St.Gallen wieder Ausverkauf gefeiert wird – Midseason Sale. Was immer das sein soll. Jedenfalls: 80 Millionen Kleidungstücke werden weltweit jedes Jahr verkauft. 400 Prozent mehr als noch vor zwei Jahrzehnten.

5. April, Multergasse St.Gallen

Andrew Morgans 2015 erschienener Dokumentarfilm The True Cost, am 11. April im Kinok zu sehen, fasst die globale Misere der modernen Kleiderindustrie eindrücklich zusammen. Es ist ein Film über die Kleider, die wir tragen, über die Menschen, die sie machen und über die Auswirkungen, die das Geschäft auf unsere Welt hat – ein Geschäft mit einem jährlichen Umsatz von fast drei Billionen Dollar weltweit.

40 Millionen Textialarbeiterinnen und -arbeiter weltweit

Morgan geht vor allem auf die sogenannte Fast Fashion ein: Zwei Kollektionen pro Jahr, das war einmal. Tiefsegment-Ketten wie H&M, Zara oder Chicorée kopieren mittlerweile jedes Jahr bis zu acht Kollektionen prominenter Designer, um deren Kreationen dann billig an die Frau oder den Mann zu bringen. Die Vorlaufzeiten sind kurz, betragen oft nur einige Tage, maximal einen Monat. Das verstärkt den ohnehin schon krassen Produktions- und Lieferdruck – und schürt so die menschlich und ökologisch unverantwortlichen Praktiken in den Herstellungsländern.

The True Cost:
11. April, 17 Uhr, Kinok St.Gallen. Einführung: Jörg Metelmann, Titularprofessor für Kultur- und Medienwissenschaft an der Universität St.Gallen.

In den 1960er-Jahren wurde noch etwa 95 Prozent der Kleidung in Amerika hergestellt, heisst es im Film. Heute seien es noch etwa drei Prozent. Die Herstellung der anderen 97 Prozent wurde in den globalen Süden ausgelagert, in Billiglohnländer. Rund 40 Millionen Textilarbeiterinnen und -arbeiter gibt es heute auf der Welt, vier Millionen leben und arbeiten in Bangladesch, in insgesamt 5000 Fabriken. Mehr als 85 Prozent davon sind Frauen.

Shima, die auch im Film vorkommt, ist eine von ihnen. Sie spürt die Folgen des Fast Fashion-Systems jeden Tag. «Die Menschen haben keine Ahnung, wie schwer es für uns ist, diese Kleider zu produzieren», sagt die junge Frau aus Bangladesch. «Sie kaufen sie nur und tragen sie. Ich denke, dass diese Kleider mit unserem Blut produziert werden.» Vor einiger Zeit hat sie darum eine Gewerkschaft gegründet. Sie und ihre Mitstreiterinnen wurden daraufhin angegriffen und verprügelt von den Fabrikbesitzern. Andere Näherinnen und Näher halfen dabei – aus Angst um ihren Job.

Vier Jahre Rana Plaza

Die Rechtfertigungen der «Befürworter» dieses Systems sind teilweise verstörend: Die Näherinnen seien immerhin in einem System, dass ihnen zu Fortschritt und Aufstieg verhelfe, sagt einer im Interview. Und dass doch die Arbeit in einem Sweatshop – einem Ausbeutungsbetrieb – von allen Alternativen noch die beste sei. Eine andere meint allen Ernstes, dass an Näharbeiten ja «grundsätzlich nichts Gefährliches» sei. «Das ist nicht wie Kohlebergbau oder Erdgasförderung.»

Die 1129 Todesopfer des Fabrikeinsturzes in Rana Plaza, der sich am 24. April zum vierten Mal jährt, beweisen das Gegenteil. Erschreckend daran: Die Angestellten hatten das Fabrik-Management vor dem Einsturz des Gebäudes mehrmals auf die Mängel in der Bausubstanz hingewiesen. Im Film berichtet eine Überlebende, wie ihr damals eine Seitenwand auf ihre Beine fiel. Heute sind sie amputiert.

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Sie und die anderen Näherinnen sind das letzte Glied in der gobalen Herstellungskette. Die Misere beginnt aber schon viel früher: beim Baumwollanbau. Heute bestehen die Plantagen aus gentechnisch «optimierten» Pflanzen und werden ganzflächig mit Pestiziden behandelt. Und die Konzerne, die das genetisch veränderte Saatgut herstellen, sind dieselben, die auch das Roundup dazu und die allfälligen Krebsmedikamente verkaufen.

vergiftetes Grundwasser, Geschwüre und Taubheitsgefühle

Die Folgen des Baumwollanbaus sind gravierend: Geburtsfehler, Krebs, psychische Krankheiten und körperliche und geistige Behinderungen sind nur die Spitze des Eisbergs. Von der Umwelt ganz zu schweigen. Dasselbe gilt für die Weiterverarbeitung: vergiftetes Grundwasser, Ausschläge, Geschwüre, Taubheitsgefühle und Krebserkrankungen gehören zum Alltag in Indien und anderen Ländern.

Ausstellung «Fast Fashion – Die Schattenseiten der Mode»: bis 30. Juli, Textilmuseum St.Gallen

Und dann wären da noch die wirtschaftlichen Folgen des Fast Fashion-Systems: Es gibt zum Beispiel das Phänomen namens Pepe – Haufen von Kleidern, die nicht in Secondhand Stores verkauft werden können und darum in arme Länder verschifft werden. Diese Gebrauchtkleider-Schwemme führt dazu, dass die lokale Textilindustrie, zum Beispiel in Haiti, stirbt oder sich in eine Billigindustrie verwandelt, die nur noch T-Shirts für die USA und Europa produziert.

The True Cost fasst noch weitere Aspekte der globalen Kleiderindustrie zusammen – und lässt auch allerhand Akteurinnen und Akteure zu Wort kommen. Manchmal sind die ohnehin schon beklemmenden Bilder zwar mit etwas gar pathetischem Sound unterlegt, dafür liefert der Film ein Rundum-Komplett-Paket über die Schattenseiten der Mode. Wahrlich kein angenehmer Streifen. Und darum umso wichtiger, denn an Argumenten faire Mode mangelt es nach diesen 90 Minuten definitiv nicht mehr.

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