, 20. April 2014
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«Ich habe aber kein Schiff»

Die aus Wald AR stammende Autorin Rebecca C. Schnyder seziert im Stück «Schiffbruch» die komplexe Beziehung dreier Geschwister. Am Freitag hatte es in der Inszenierung von Stefan Camenzind in Herisau Premiere. Von Sebastian Ryser

Einen Anker! Einen Anker hat sich Enzo auf den Arm tätowieren lassen, wie die richtigen Seemänner. Fassungslos starrt Luise auf den Arm ihres Bruders und beginnt, ihrer Schwester Vorwürfe zu machen. Sofort ist klar: in diesem Stück geht es um eine Familie im Ausnahmezustand. Die Mutter ist gestorben, der Vater todkrank. Gepflegt wird er von den beiden Töchtern Luise (Vera Bommer) und Milva (Jeanne Devos), die sich auch um ihren behinderten Bruder Enzo (Frank Wenzel) kümmern müssen.

Seit dem Tod der Mutter scheint nun alles ausser Kontrolle geraten zu sein. Zwar versuchen die Familienmitglieder beim gemeinsamen Abendessen einen Rest von Normalität aufrecht zu erhalten – doch das Elternhaus ist seit dem Tod der Mutter kein Ort familiärer Harmonie mehr. Das zeigt sich schon deutlich im Bühnenbild: Angelica Paz Soldan hat das Elternhaus als gläsernen Kasten umgesetzt, der so klein ist, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler darin nicht aufrecht stehen können. Ein enger Käfig, in dem die Familienmitglieder dicht aneinander gedrängt am Esstisch sitzen und den gegenseitigen Anschuldigungen nicht ausweichen können. Nur der schwerkranke Vater – einfühlsam gespielt von Bruno Kocher – versucht die Familienharmonie aufrecht zu erhalten, obwohl gerade er seit dem Tod seiner Frau am verlorensten scheint.

Schwelende Konflikte

Die Situation spitzt sich ab der zweiten Szene noch zu, die mit einem Zeitsprung und einem weiteren Verlust beginnt: Auch der Vater ist nun gestorben. Die drei Kinder stehen im Garten vor dem Elternhaus und sind plötzlich vor ganz praktische Entscheidungen gestellt: Soll das Haus verkauft werden? Oder doch lieber nur vermietet? Und wer kümmert sich von nun an um den Bruder? Hinter jeder dieser Fragen verbergen sich schwelende Konflikte, die nun einen nach dem anderen aufbrechen. Der Garten vor dem Elternhaus wird zur Arena für den Machtkampf zwischen den Schwestern.

In ihrem mehrfach ausgezeichneten Stück geht die Autorin mit unglaublich hoher Präzision der Frage nach, wie sich die Beziehung der Schwestern nach dem Verlust der Eltern verändert. Die unterschiedlichen Vorstellungen und Wünsche der Beiden treffen hier mit aller Wucht aufeinander. Konflikte aus der Vergangenheit lodern auf, die nie zur Sprache gekommen sind und nun mit aller Härte ausgetragen werden. Mit jedem Satz droht eine neue Wunde aufzubrechen.

SCHIFFBRUCH2Unangenehmes aussprechen

Oft geht es dabei um den Bruder. Über ihn streiten sie, ihn versuchen sie auf jeweils ihre Seite zu ziehen – Er ist der Angelpunkt in der Beziehung der Schwestern. Das ist ein geschickter Einfall des Stücks, denn durch seine eigenwillige Art kann der Bruder ungehemmt kommentieren und unangenehme Wahrheiten aussprechen. Das bringt immer neue Facetten in der Beziehung der Geschwister zu Tage. Und durch seinen liebenswert kindlichen Trotz, seine Wutausbrüche und viel zu direkten Fragen bringt der Bruder auch Witz in den emotional aufgeladenen Vorgarten.

Das Stück lebt von seiner knappen, genauen Sprache. Kein Satz ist zu viel und jeder kann die Stimmung im Stück ins Gegenteil umschlagen lassen. Der Regisseur Stefan Camenzind nähert sich dem Stoff mit viel Sinn für diese sprachliche Genauigkeit.

Die Bühne ist – abgesehen vom gläsernen Kubus – leer und die Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf die Schauspielerinnen und Schauspieler. Diese gehen mit dem anspruchsvollen Stück alle souverän um. Vor allem in Momenten, in denen sich die Schwestern trotz aller Streitigkeiten zögerlich annähern und sich an die gemeinsame Kindheit erinnern, schaffen es die Schauspielerinnen Vera Bommer und Jeanne Devos, die Überforderung und Trauer ihrer Figuren erstaunlich differenziert zu zeigen. Frank Wenzel spielt den Bruder mit einer beeindrucken grossen Bandbreite und einem wunderbaren Gefühl für Timing.

Der Verlust der Eltern zwingt die Kinder, sich der Vergangenheit und ihren festgefahrenen Vorstellungen und Ansichten zu stellen. Sie sitzen alle im gleichen Boot – und alle haben längst die Orientierung verloren.

Weitere Aufführungsdaten:
20./23. April, Alte Stuhlfabrik Herisau
1. Mai, Kellerbühne St.Gallen

6. September, Theater im Burgbachkeller Zug

11./12./13. September, Tojo Theater Bern

Bilder: pd

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