, 7. März 2017
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In der Ecke, in der Mitte von allem

Holzschnitte, Bänke, Wandpanels, ein Film – all dies und mehr kombiniert die deutsche Künstlerin Andrea Büttner in der Kunsthalle St.Gallen. Es geht um Kollaboration, der Titel heisst «Gesamtzusammenhang». Nina Keel berichtet.

Mit zwei langen Stellwänden wird man als Besucherin in Büttners Ausstellung mit Titel Gesamtzusammenhang als erstes konfrontiert: feine Holzgestelle, auf denen Kartonbögen angebracht sind, zuoberst betitelt mit «Die Bedürfnisse der menschlichen Seele». Auf die Kartons sind kurze, doch dichte Texte sowie Schwarz-Weiss-Fotografien geklebt. Bei den Texten handelt es sich um Zitate der französischen Philosophin und Mystikerin Simone Weil (1909-1943), etwa dieses:

Aus dem DDR-Widerstand

Die Zitate werden kombiniert oder illustriert mit Aufnahmen bekannter Fotografen der klassischen Moderne, wobei es mitunter etwas pathetisch wird. Die beiden Stellwände und auch die im letzten Raum nachfolgenden bilden einen Teil der ausleihbaren Ausstellung «Die gefährlichste Krankheit» der Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum Berlin. Andrea Büttner hat die sich um Fragen der Ver- und Entwurzelung drehende Stellwand-Ausstellung vor einiger Zeit in Sils Maria gesehen.

Die unter dem Deckmantel der Kirche als Widerstandsbewegung in der DDR gegründete Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum schuf in den 1980er Jahren solche Stellwand-Ausstellungen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten. Die Ausstellungen wandern bis heute im deutschsprachigen Raum, besonders häufig sind sie in Schulen zu sehen, durch Andrea Büttner jetzt das erste Mal im Kontext von zeitgenössischer Kunst.

Büttners Ecke

Nun aber zu Büttners eigenen Werken: Im ersten Raum findet eine Konzentration auf grossflächige Holzschnitte statt. Da hängt etwa Bush aus dem Jahr 2010, ein karges und doch feines Ästegewirr in hellem Rosa vor schwarzem Hintergrund. Wesentlich intensiver von den Farben her ist Corner (2011-2012), das – in der Ecke – gegenüber von Bush zu sehen ist. Ecke und ihre Symbolik spielen eine wichtige Rolle im Werk der Künstlerin: Büttner hat Kunstgeschichte und Philosophie studiert und ihre Dissertation über die Scham in der Kunst verfasst.

Andrea Büttner: «Gesamtzusammenhang» Kunsthalle St.Gallen,
bis 7. Mai.

kunsthallesanktgallen.ch

Mit Corner spricht sie Rituale der gesellschaftlichen Ausgrenzung an und verweist auf einer übergeordneten Ebene auf Fragen zu Würde und Humanität, die in ihrem Schaffen zentral sind. Nebst den erwähnten, abstrakteren Holzschnitten sind im ersten Raum solche mit schematischen menschlichen Figuren zu sehen sowie weitere, die von Schrift bestimmt werden.

Beim Pressetermin erläuterte Büttner ihre Beweggründe, die Ausstellung über Simone Weil miteinzubeziehen: Einerseits habe sich Weil – wie auch sie selbst – ausführlich mit dem Zusammenhang von Politik und Religion beschäftigt. Dies zeigt sich im ersten Raum etwa darin, dass sowohl Büttners Holzschnitte als auch Weils Zitate menschliche Grundbedürfnisse thematisieren respektive Büttner ihre Werke mitunter so wählte, dass sie auch als Kommentare auf Weils Zitate zu verstehen sind. Andererseits habe sie in Sils Maria Gefallen an dem Display gefunden, das – wie oft auch das Medium des Holzschnitts – als etwas aus der Zeit gefallen wahrgenommen werde. Büttner will das hinterfragen.

Der zweite Raum kündigt sich akustisch an – und zeichnet sich durch eine komplett andere Ästhetik und Stimmung aus: Die eingängige Tonspur geht vom Film You (People) Are All The Same des von Büttner eingeladenen britischen Künstlers David Raymond Conroy aus. Der Film spielt in Las Vegas und greift moralische Fragen auf – etwa ob und wie andere Personen in einem künstlerischen Werk «verwendet» werden dürfen. Conroy bearbeitet ähnliche Felder wie Büttner, bedient sich aber einer viel spielerischeren und heiteren künstlerischen Sprache – ein Gegenpol, der dieser anspruchsvollen Ausstellung gut tut.

Daneben geht Tent (igloo), ein weiterer Holzschnitt Büttners, etwas unter, nicht aber die beiden rudimentären Bänke, die zugleich Skulptur und Sitzgelegenheit sind. Sehr überzeugend ist die von Conroy vorgenommene Positionierung einer orangefarbenen Stoffarbeit Büttners. Ein identisches Stoffpanel lenkt die Aufmerksamkeit zu den Holzschnitten mit Bettler-Motiven im letzten Raum.

Und der Gesamtzusammenhang?

Andrea Büttner hat zusammen mit dem Team der Kunsthalle eine inhaltlich kluge Ausstellung geschaffen, deren Konzept durch die vielen Ebenen des Einbezugs und gegenseitigen Verweisens jedoch kopflastig ausfällt, zuweilen von den Werken an sich ablenkt und viel Geduld voraussetzt. Für die Rezeption sehr förderlich ist hingegen die Leichtigkeit der Präsentation mit ausreichend Freiraum sowie die Reduktion auf drei Werkgruppen Büttners: Bänke, Panels und Holzschnitte.

Der Holzschnitt zählt seit den 90er Jahren zu den bevorzugten Medien der Künstlerin, da er häufig als «sekundäres Medium» wahrgenommen werde – und sie damals Lust gehabt habe, etwas «Uncooles zu machen». Heute interessiere sie an dem Medium vor allem das körperliche Hantieren mit der Flex. Der Holzschnitt ist zudem eines der wenigen Medien, an denen Büttner, die häufig auf Kollaboration mit Personen aus verschiedenen Feldern setzt, überwiegend alleine arbeitet. Weitere Medien von ihr wären Skulptur, Glasmalerei sowie Video – einen solchen zeigte sie 2012 im Rahmen ihres Beitrages an der Documenta.

Was ist nun aber der Gesamtzusammenhang von Büttners St.Galler Ausstellung? Am Ende des Pressetermins bemerkte die Künstlerin, dass Kunst oft mit Handlungsentlastung verbunden sei – und es schwang leise Kritik mit. Bei Simone Weil findet sich dazu eine klare Ansage; sie geht über die Ausstellung hinaus: «Das Höchste ist nicht, das Höchste verstehen, sondern es tun.»

Bilder: Nina Keel

 

 

 

 

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