, 9. März 2014
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Kreativität und Sucht in der Gamezone

Gründe für die Aufrechterhaltung einer durch Buchstaben statt durch Bilder gestützten Zivilisation. Ein kritischer Beitrag von Rolf Bossart.

Jedes neue Medium des digitalen Zeitalters zieht den Karnevalszug der Zweckoptimisten und der Kulturpessimisten hinter sich her. Beide haben starke Argumente, aber meist eine schwache empirische Basis und insofern dreht sich ihr Recht auch schnell ins Unrecht. Die Zweckoptimisten denken in Möglichkeiten, die Kulturpessimisten in Befürchtungen. Doch so wie von den vielen Möglichkeiten allzu oft nur die Macht der einfachsten und renditestärksten Handhabung bleibt, so zerbröseln die Befürchtungen an der relativen Trägheit der in fünftausend Jahren Kulturgeschichte gefestigten anthropologischen Konstanten. Die menschlichen Verhaltensweisen sind im Allgemeinen doch nicht so vielfältig wie die Optimisten behaupten und zum Glück doch nicht so fragil wie die Pessimisten glauben.

Es gibt aber bei allen Produkten des digitalen Zeitalters die Figuren des Junkies und die des Künstlers. Eine nüchterne Analyse kann sich also glücklicherweise mit diesen realen Positionen auseinandersetzen. Die Existenz von Künstlern ist vom Standpunkt der Kulturtheorie die beruhigende Tatsache, dass auch dieses neue Ding, hier also die Welt der Computergames, durch Kreativität und Sozialität zum Kulturgut werden kann, wofür man sich in Gruppen zusammenschliesst, worüber man in Fachbegriffen sprechen und das man klassifizieren, sammeln, pflegen, tradieren kann.

Die Existenz der Junkies dagegen ist vom Standpunkt der Soziologie aus die beunruhigende Tatsache, dass die Vielfalt der möglichen Süchte und Abhängigkeiten in den modernen Gesellschaften stetig zunimmt. Die Sucht und Sinnleere auf der einen Seite, die Bereicherung der Kultur auf der anderen. In diesem Zusammenhang kann es sich lohnen zu fragen, wer genau in der digitalen Gamewelt die Junkies und wer die Künstler sind.

Der anachronistische Mensch 

Die Gamekünstler, diejenigen also, die Games und Diskurse über Games entwickeln und beherrschen, verfügen über Voraussetzungen, die im Prinzip der digitalen Gamewelt widersprechen, respektive dort nicht gelernt, sondern von dieser eher unterlaufen werden. Denn was bereits für das Betrachten der Filme gilt, ist genauso richtig in der Gamewelt: «Die idealen Rezipienten des Films sind anachronistische Rezipienten: Menschen, die noch in der Lage sind, anderen Menschen einen gerade gesehenen Film zusammenhängend zu erzählen, über ihn nachzudenken, womöglich zu rezensieren, kurzum Menschen, die ihn mit Ausdauer verfolgen und ihn mit Verhaltensweisen umgeben, die sie bei Bastelarbeiten, Geschicklichkeitsspielen, beim Betrachten und Malen von Bildern, beim Lesen und Schreiben von Texten gelernt haben, aber nicht beim Film selbst», so Christoph Türcke in seinem Buch Hyperaktiv. Darin zeigt er, mit wie viel Mühen die menschliche Gattung aus traumatischen Halluzinationen der Urzeit die Kraft der Vorstellung entwickelt hat, die sie in die Lage versetzt, den Dingen um sie herum selber Bedeutung zuzumessen und die inneren Bilder von der äusseren Realität zu unterscheiden.

Türcke ortet in seinem Buch die Gefahr, dass die neue Medienwelt vom Fernseher bis zum Ego-Shooter durch die permanenten Bilderschocks dazu führen könnte, die anstrengende Kulturleistung einer inneren Vorstellungskraft, die ohne die permanente Hilfe äusserer Bilder auskommt, zurückzuwerfen auf den Stand der Halluzinationen, wo die Unterscheidungen zwischen virtuell und real tendenziell aufgehoben sind. Der Befund, dass es bisher keine Amokläufer gab, die nicht einen massiven digitalen Spielkonsum aufwiesen, scheint diese These zumindest im Extremfall zu bestätigen.

Verallgemeinerbar für die Figur des Junkies ist sie insofern, dass dieser sein Spiel genauso ernst nimmt wie nur irgendetwas anderes in seinem Leben. Wenn der Gamekünstler die Ressourcen für sein Tun von ausserhalb der digitalen Welt mitbringt, so ist der Gamejunkie tendenziell von Anfang an daran gebunden. Denn wie wir aus der ADHS-Forschung wissen, werden sehr viele Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen plötzlich ganz fokussiert, setzt man sie vor einen laufenden Bildschirm. Das kann, um es in den Metaphern der Hirnforschung zu sagen, nichts anderes bedeuten, als dass ihre Nervenzellengeflechte durch frühen und permanenten Medienkonsum auf ständige Reizwechsel eingestellt sind, so dass sich bei reizarmen Tätigkeiten, wie Zuhören oder Beobachten, sofort Nervosität einstellt.

Kultur-Rückfall im digitalen Zeitalter

Wer Gamekünstler ist, könnte im Prinzip auch Bücher lesen, er tut es eben zufällig nicht, hingegen kann der Gamejunkie gar keine Bücher lesen. Es hat eben eine Logik, dass er ein Gamer ist und kein Büchernarr. Der vielgerühmte und vielgelobte Umgang, den die Kinder mit den Neuen Medien lernen sollen und dem in den pädagogischen Diskursen unter dem Stichwort «Medienkompetenz» so viel Raum gegeben wird, entscheidet sich bei genauerer Betrachtung durch das Mass an Zeit und Kraft der Eltern, die Kinder immer aufs Neue mit Zuwendung und Alternativideen von den Geräten fernzuhalten. Und da der digitale Medienkonsum der Kinder oft umgekehrtproportional zum Einkommen der Eltern verläuft, zeigt sich also in den Figuren des Junkies und des Künstlers die  für alle Neuen Medien typische Vergrösserung schichtspezifischer Unterschiede.

Das aktuelle Potential des Kultur-Rückfalls im digitalen Zeitalter lässt sich noch von einer anderen Seite her beschreiben. Man kann feststellen, dass Staat und Wirtschaft zur Verhaltenslenkung der Menschen immer öfter statt auf Repression auf spielerische Methoden setzen. Eine alte reformpädagogische Praxis, die neu unter dem Stichwort «Gamifizierung» kursiert. Dabei war bereits der Rat an die Eltern, den Konflikten mit ihren Kindern nicht mit erzieherischen, sondern mit spielerischen Mitteln zu begegnen, vom behavioristischen Glauben an die maschinelle Struktur der Menschen getragen. Der Traum von einer konfliktfreien Welt durch spielende und ins Spiel zu involvierende Menschen hat natürlich sein Gutes gegenüber einer durch Repression niedergedrückten Gesellschaft.

Allerdings liegt der immer noch sehr interessanten Spieltheorie von Marshall McLuhan zufolge die Sache nicht so einfach. Wohl können die Spiele in atomisierten und spezialisierten Gesellschaften wie der unsrigen im Prinzip als eine Art Gegengift verstanden werden. Der heilige Ernst, die Leidenschaft und die sogenannte totale Beteiligung, die die Spielenden auszeichnet, kompensieren die Distanz und Gespaltenheit, die sonst im Alltag herrscht. McLuhan zufolge hat aber die Gesellschaft im «elektrischen Zeitalter» die Tendenz, ihren abstrakten, auf der Buchstabenkultur aufbauenden Charakter zunehmend einzubüssen und sich – freilich unter ganz anderen Vorzeichen Vorzeichen – wieder einer Art Stammeskultur anzunähern, wo keine eigene Spielsphäre existiert. Weil das, was die Spiele in eher abstrakten Gesellschaften kennzeichnet, im Alltag sowieso permanent gefordert ist.

Börsenbroker und Gamejunkie

Wenn diese These stimmt, dann bedeutet die vorhin angedeutete Ausweitung der Gamezone nichts weiter als die Totalisierung dessen, was sowieso läuft. Bestes Beispiel ist die Nähe des Börsenbrokers zum Gamejunkie: vom totalen Einsatz ums Ganze bis hin zum Kick des rechtzeitigen Klicks. Mit dem wesentlichen Unterschied, dass in der Regel nur der eine von ihnen fürs Spielen bezahlt wird. Allerdings wäre der Kapitalismus nicht was er ist, wenn man nicht auch als Gamejunkie Geld verdienen könnte. In eigenen Ligen, wie es sie in Asien gibt, wo Profis unterwegs sind und Wettgeschäfte blühen. Bis man aber zum dicken Geld kommt, hat man sich wohl auch in Sachen Gesundheit der Figur des Brokers angenähert.

Diese ist bei jenem, wie man weiss, oft ziemlich futsch. Es zeigt sich auch von dieser Seite her betrachtet nochmals die grosse Integrationskraft der neuen Medienwelt bei gleichzeitiger Teilungsfunktion. Oder anders formuliert, die digitalen Medien bestätigen oder verstärken einfach die herrschenden Trends und Unterschiede. Jede Kultur ist immer von Rückfällen bedroht. Wenn es auch Anlass zur Hoffnung gibt, dass sie sich davon wenigstens wieder erholen kann, so möchte ich doch zusammenfassend bezüglich der Neuen Medien festhalten, dass sie den «Fortschritt in der Geistigkeit» oder die «Bildung des Menschengeschlechts», wie man es früher emphatisch genannt hat, eher unterlaufen und abbauen und nur im Fall der selteneren, künstlerischen Handhabung befördern können.

Distanz üben

Vor dem Hintergrund dieser Tatsache haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder wir verbinden uns immer mehr mit allen Sinnen und Haut und Haaren mit Technik und pfeifen auf die Anstrengungen sozialer Konflikte und geistiger Abstraktion, vielleicht aber um den Preis unserer allmählichen (Rück-)Verwandlung in eine hybride Natürlichkeit. Nicht wenige Gamedesigns stimmen uns bereits ästhetisch darauf ein. Oder wir können zweitens Distanz üben. Diese Möglichkeit ist leider mit einer unangenehmen pädagogischen Agitation verbunden. Es müssen Begrenzungen und Verbote durchgesetzt, Tugenden legitimiert, Orte und Zeiten der digitalen Abstinenz bestimmt werden.

Aber wer der romantischen Verschmelzungsfantasie misstraut und auch mit der maschinenpädagogischen Verhaltenssteuerung durch die Gamifizierung nicht glücklich wird, hat gute Gründe für die Aufrechterhaltung unserer primär durch Buchstaben und nicht durch Bilder gestützten Zivilisation zu kämpfen und also für die Trennung der Sphären in Spiel und Alltag, in Fantasie und Realität, in Technik und Geist. PS: Wer die Kontrolle über die Welt um sich herum nur noch über Tastatur und Joystick zu erreichen meint, verliert als erstes die Kontrolle über seine Ressentiments. Eine Studie über die Gamifizierung von Abstimmungen in Zeiten der neuen Medienwelt steht noch aus.

 

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