, 16. Februar 2015
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Mit Kinderaugen

Der Islam ist nicht eine Religion des Bösen oder des Guten, er ist Auslegungssache. Und er hat dasselbe Problem wie alle alten Schriftenreligionen: Man kann sich ihrer bemächtigen. Ein Text aus dem Februar-Heft von Saiten.

«Echt? Das sieht man dir gar nicht an!», erwiderten die Leute oft, wenn Nuran erzählte, dass sie Türkin und gläubige Muslimin ist. Sie lachte jeweils und legte, wenn sie besonders gut drauf war, noch einen selbstironischen Spruch nach. Ihr war klar, dass diese ziemlich weltfremde Feststellung in den wenigsten Fällen böswillig gemeint war, sondern vielmehr von einer etwas unbeholfenen Neugier zeugte. Zugegeben, mit ihren wilden Frisur, ihrer figurbetonten Kleidung und dem ganzen Hippie-Schmuck entsprach sie auch nicht gerade dem, was man als «typische Muslima» bezeichnen würde, aber darum geht es ja: Damals – vor 9/11 – war der Islam vielfältiger, die Bilder in unseren Köpfen waren nicht so holzschnittartig.

Als Teenager pflegten wir ein relativ entspanntes Verhältnis zum Islam. Heute ist das anders. 57 Prozent der Nicht-Muslime in Deutschland, heisst es im kürzlich publizierten Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung, also jede zweite Person, hält den Islam für «bedrohlich» oder «sehr bedrohlich». Mehr als 60 Prozent sind der Ansicht, dass der Islam «nicht in die westliche Welt passt». Ein Viertel der Befragten fordert sogar, die «Einwanderung von Muslimen zu untersagen». Demgegenüber stehen die rund vier Millionen Musliminnen und Muslime in Deutschland, wovon sich über 90 Prozent stark verbunden fühlen mit der Bundesrepublik und ihren freiheitlichen Werten. Sie sind beides, fromm und liberal: 63 Prozent bezeichnen sich als «ziemlich» bis «sehr religiös» und überdenken ihre religiöse Einstellung «oft» bis «sehr oft». Neun von zehn pflegen regelmässig Kontakte zu Nicht-Muslimen und sind der Meinung, dass man allen Religionen gegenüber offen sein muss. Und: Fast 60 Prozent würden einer Heirat von homosexuellen Paaren zustimmen.

Küsschen und Aromat

Wenn man bei Nurans Familie zur Wohnungstür herein kam, duftete es je nach Tageszeit meistens ganz wunderbar nach Köfte, Bulgur, Menemen, Sucuk oder Pide-Brot. Sie selber war am glücklichsten, wenn sie ein paar Nudeln mit Aromat vor sich hatte. Ihre Mutter war nicht berufstätig und daher oft zu Hause. Sie wirkte immer etwas schüchtern und liess sich von ihrer Tochter jeweils ein Küsschen auf die Wange drücken, bevor wir eilig in Nurans Zimmer verschwanden. Ihren älteren Bruder bekamen wir selten zu Gesicht. Normalerweise war er in seinem Zimmer, hörte Rap oder war am Gamen. Manchmal sass er oben am grossen Stubentisch, der von buntgepolsterten Stühlen umringt war, alle mit durchsichtigem Plastiküberzug. Ihr Vater, im Ostschweizer Kader eines global tätigen Unternehmens, kam in der Regel erst abends heim, wenn er nicht gerade auf Geschäftsreise war. Meistens setzte er sich mit seinen Zigaretten vor den Fernseher und schaute türkische oder britische Nachrichten. Bevor er in den 80er-Jahren mit seiner Frau in die Schweiz kam, lebte das Paar zwei Jahre in England, wo er ein Stipendium hatte. Nuran ist dort zur Welt gekommen.

Es muss um die Jahrtausendwende gewesen sein, als ich sie kennenlernte. Irgendwo beim Kantipark. Kaum ein paar Wochen hat es gedauert und wir waren unzertrennlich. Natürlich hatte ich auch zuvor muslimische Freunde, aber erst durch Nuran kam ich zum ersten Mal richtig in Berührung mit «dem Islam» – wobei das natürlich die Untertreibung des Jahrhunderts ist, da es bekanntermassen nicht den einen, sondern ungefähr so viele Islame wie Muslime auf der Welt gibt. Damals wäre es mir übrigens nie in den Sinn gekommen, eine solche Relativierung vorzunehmen. Der Islam war weit davon entfernt, als Synonym für vermeintliche Weltherrschaftsgelüste, Terror-Camps oder Kopftuchzwängerei zu gelten. Er war auch noch kein Vehikel zur Wiederherstellung von «Sicherheit und Ordnung» in den «Failed States der Peripherie», wie der Ethiker Peter Schaber kürzlich in einem starken Essay im «Lower Class Magazine» schrieb. Er war vor allem eines: ungeheuer interessant. Neuland, das es zu erforschen galt.

Die Koran-Aufklärer

Kerem Adigüzel, 28, ebenfalls ein alter Freund, Mathematiker und praktizierender Muslim, erforscht den Islam schon sein halbes Leben lang. Den Koran muss man, wenn es nach ihm geht, mit unverstelltem Blick lesen, mit Kinderaugen. Immer wieder von neuem. 2012, kurz bevor Morsi Präsident wurde, verbrachte Kerem vier Monate am internationalen ILI-Institut in Kairo, vertiefte dort sein Arabisch und widmete sich dem Koranstudium. «Eine gute, intensive und farbige Stadt», sagt er, «auch wenn damals alles im Umbruch war». Mit einem Freund aus Kairo und ein paar anderen gründete er vor acht Jahren das Wissensportal alrahman.de, eine deutschsprachige Plattform, die sich sehr eingehend mit Koranforschung und aktuellen Fragen an den Islam beschäftigt.

«Es ist eine bekannte Tatsache, dass der Name Gottes, so wie viele andere Konzepte und Wesenheiten, von bestimmten Klassen unter den Menschen, insbesondere von Religionsgelehrten und Politikern für Machtzwecke missbraucht wurde», schreibt Kerem dort. «Unsere Aufgabe ist es, diesen Missbrauch aufzudecken, ohne dass wir selber in diese Falle tappen. Wir beschreiben unsere Position als monotheistischen Rationalismus». Dazu gehört auch, sich kritisch mit den Hadithen auseinanderzusetzen und den Koran als höchste und einzige Instanz anzuerkennen. «Wenn wir den Ahadith glauben, die dem Propheten zugeschrieben werden, erleben wir eine Form der Einengung in unserer Religion und vor allem in der Beziehung zu Gott», heisst es in einem von Kerems Artikeln. Denn geht es nach ihm, gibt es nur ein Rezept: aufklärerisch an den Koran herangehen, die Wortbedeutungen hinterfragen und «nicht einfach stur alles nachplappern wie ein Papagei».

Alte Männer und der Leib Christi

Manchmal war Nuran am Beten, wenn ich kam. Sie schaute mich dann wortlos an und deutete aufs Bett, wo ich mich hinsetzen sollte, bis sie fertig war. Es hatte stets etwas Feierliches, wie sie in ihrem kleinen Zimmer vor dem Heizkörper kniete, den Kopf auf den Teppich legte und trotz meiner Anwesenheit in sich selber versank, während sie leise murmelnd ihre Suren rezitierte. Als Katholikin empfand ich die christliche Beterei immer als etwas Aufgesetztes, Lustloses. Nurans Gebet war ehrlicher. Es kam von Herzen. Meistens jedenfalls. Wo ich aufgewachsen war, erschienen mir Kirche und Religion eher wie skurrile Hommagen an die graue Vorzeit, etwas für alte Männer in gold-violetten Gewändern, die kleinen Ministranten den Leib Christi in den Mund schoppen. Dass Nuran sich so innig mit Gott auseinandersetzte, so genuin, das irritierte mich. Obwohl ich nicht ausschliessen kann, dass es das Göttliche gibt, hielt ich selber nie viel vom Fromm-Sein. Damals fragte ich mich oft, ob mir nicht doch etwas fehlt. Und wieso Nuran es hatte.

Hin und wieder blätterten wir gemeinsam in ihrem Koran, ein dickes, in Leder gebundenes Buch mit goldenen Schriftzeichen. Die Suren standen rechts in Arabisch und links auf Türkisch. Nuran erklärte mir, dass alle 114 Suren der Länge nach und nicht chronologisch geordnet sind, wie sie dem Propheten Mohammed von Gott persönlich eingegeben wurden, wie sie früher freitags mit ihren Eltern und einer befreundeten Familie über deren Bedeutung diskutiert hatten und dass dieses Auslegen eigentlich Schura genannt wird. Ich habe sie vieles gefragt in dieser Zeit. Und wenn ich heute im Koran lese, erinnere ich mich gerne daran zurück. Auch an Nurans Lieblingsvers: Wollt ihr etwa den Menschen das gottgefällige Handeln gebieten und euch selbst (dabei) vergessen, ihr, die ihr die Schrift vorträgt?! Bedient euch doch des Verstandes! (2:44)

Börek und Atatürk

Das ging ein ganzes Weilchen so. Für Teenager-Verhältnisse jedenfalls. Dann kamen bereits wieder neue Fragen: Was hat es mit diesem bösen Blick auf sich und wieso hilft dagegen ein blaues Auge, das Nazar heisst? Was ist Haram? Wie macht man Börek, und geht das auch mit Speck? Und wer ist dieser Atatürk auf dem Foto über der Kommode, wieso hat er die Schweizer Bundesverfassung geklaut und was genau hat er mit den Kurden gemacht? Ich wollte alles über dieses fremde Land und seine Kultur wissen. Umgekehrt wars nicht so. Nuran war schliesslich bestens vertraut mit den hiesigen Eigenheiten und wechselte die Rollen, wie es ihr gerade passte. Ihre Eltern hatten es da um einiges schwerer, waren unsicher, misstrauisch, ängstlich.

Damals haben wir oft darüber diskutiert, wie wir unseren Kopf durchsetzen konnten, wie wir das Vertrauen ihres Vaters gewinnen, die Mutter auf unsere Seite ziehen konnten, damit Nuran noch eine Stunde länger draussen bleiben durfte. Ihre Eltern waren wirklich ungeheuer streng. Nicht nur, dass ich sie jedes Mal zu Hause abholen musste, wenn wir etwas unternehmen wollten, ich musste sie auch wieder pünktlich dort abliefern. Am Anfang jedenfalls. Das änderte sich erst, als wir uns alle besser kannten. Trotzdem: Auch mit fast 20 waren wir an den Abenden noch «am Mathe lernen», «im Volleyball» oder «am Jassen». Bei anderen Übernachten? In die Disco? Bier? Einen Freund haben? Keine Chance.

Als es einmal besonders schlimm war, sind wir schliesslich ausgerissen. Wir schliefen bei mir und schmiedeten stundenlang Pläne, wie wir Nurans strengen Vater endlich überzeugen konnten, ihr die Freiheiten zu geben, die man kurz vor dem 18. Geburtstag für gewöhnlich so hatte. Das Gespräch war ein absoluter Reinfall. Nuran kassierte Hausarrest, ich wurde von ihm rausgeworfen. Ihre Mutter verstand uns zwar, war aber trotzdem stocksauer und definitiv nicht auf unserer Seite. Ihr Bruder war am Gamen.

Glaube und Identität

Heute lachen wir drüber. Nicht nur weil Nuran mittlerweile ein gutes Verhältnis mit ihrer Familie hat. Auch weil uns irgendwann klar wurde, dass die elterliche Strenge nur am Rande mit dem Islam respektive der Religion zu tun hatte und eher eine Art «kulturell bedingte Fürsorge» war: Ihre Eltern fürchteten sich vor den Auswüchsen des kapitalistischen Westens. «Sie sind wohl irgendwann einfach stehen geblieben », sagt Nuran heute. Mittlerweile wohnt sie am anderen Ende der Schweiz, arbeitet im Sozialwesen und ist glücklich verheiratet. Mit einem nicht-muslimischen Mann. Die Hochzeit feierten sie alle zusammen in der Türkei. Ihre Erklärung ist einfach: «Meine Eltern haben ihr Bild der türkischen Kultur damals konserviert, nachdem sie ausgewandert sind. Sie haben nicht mitbekommen, dass die Welt sich weiter gedreht hat. Auch in der Türkei. Mit dem Islam hatte das damals nichts zu tun, glaube ich. Religiös waren sie ja nicht wirklich, das kam erst in den 80er-Jahren, als sie nach St.Gallen gezogen sind. Beim Beten und Diskutieren mit ihren Freunden konnten sie sich wohl ein Stück ihrer Identität zurückholen.» Nuran selber betet heute nicht mehr so oft wie früher. «Ich bete in Gedanken», sagt sie, «ohne die Rituale ». Aber wie Kerem beruft auch sie sich nur auf den Koran.

Kerem ist seit kurzem verheiratet. Seine Frau, eine Türkin aus Konstanz, studiert internationale Beziehungen und ist ebenfalls gläubige Muslimin. Derzeit sind sie gerade auf Wohnungssuche. Würden sich die beiden auf die hadithische Rechtslehre und die Sunna berufen, hätten sie sich vor ihrer Heirat nie geküsst, und sie würde wohl ein Kopftuch tragen. Doch das Paar will nichts vom konservativen Islam hören. «Diese Denkweise ist völlig veraltet», sagt Kerem. «Die Quellen, auf die sich diese hadithischen Gelehrten berufen, sind völlig verwässert und durchmischt mit den damaligen politischen und kulturellen Ansichten. Sie bestehen aus Schnipseln, die erst Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten zusammengewürfelt wurden und ihm dann in den Mund gelegt wurden. Es ist verheerend, wenn sie für wichtiger als der Koran gehalten werden.» Geht es nach ihm, ist das nicht mehr lange der Fall. Kerem glaubt an einen Aufbruch in der Islamischen Welt, an eine neue «Islam-Generation», wie er sie in Ägypten überall aufblitzen gesehen hat. «Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die jungen Muslime, Leute wie wir, ihre Religion von den Salafisten zurückholen. Inschallah.»

 

Der Text zum Titelbild: Verliebt in den Schleier.
Beide Artikel erschienen im Februar-Heft von Saiten.

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