, 9. Juli 2016
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«Nationalismus ist von Beginn weg zu kritisieren»

Ein Gespräch mit dem preisgekrönten Schriftsteller und Essayist Pankaj Mishra: über Europas Geschichte, Antikolonialismus, Islamismus, Rabindranath Tagore und den notwendigen Feminismus.

Pankaj Mishra, geboren 1969 in Jhansi im nordindischen Uttar Pradesh, ist einer der interessantesten Denker der Gegenwart, ohne Berührungsängste gegenüber den richtig schwierigen Fragen der politischen Aktualität. Anlässlich des internationalen Literaturfestivals im Leukerbad sprach der in London und Mashobra, einer Kleinstadt im Himalaya lebende Schriftsteller in zwei verschiedenen Settings über sein neuestes Buch Begegnungen mit China und seinen Nachbarn und seine Arbeit als Reporter.

Immer wieder im Zentrum der Diskussion: die Frage nach dem kolonialen Blick auf die Weltgeschichte und der resultierenden problematischen Manifestation dessen in der Gegenwart. Bekannt wurde er im deutschen Sprachraum spätestens mit seinem Werk Aus den Ruinen des Empires (Saiten berichtete im Islamheft), worin er die europäische Geschichte untersucht anhand von Stimmen, welche darunter zu leiden hatten.

Sinnvollerweise erhielt er dafür den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung, notabene als erster nicht europäischer Schriftsteller. «Da ist sehr viel mehr hinter Geschichte», kommentiert er den eigenen Ausbruch aus den herrschenden Geschichtsauffassungen: so seien im Schulunterricht seiner Zeit nur die Nationalstaaten Indien und England besprochen worden.

Gerade China, dieses riesige, kaum bekannte Land, sei unumgänglich um Asien zu verstehen. Anhand einer Reportagenreise durch dessen Peripherie – Malaysia, Hongkong, Indonesien, Taiwan, Mongolei, Tibet, Japan und Indien – nähert er sich der Volksrepublik an mit essayistischer Methodik: improvisieren, suchen, nachforschen, weitersuchen, tiefer graben. Reduktionismus hat dabei keinen Platz, so durchquert er etliche Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Wirtschaft, Politik und Religion unter Anderen, um immer wieder beim Individuum zu landen und der Frage, wie dieses sich konstituiert, wie dieses sich in Beziehung zur Welt bringt oder bringen kann.

Das Gespräch fand am vergangenen Sonntag in der Lounge des Kurhotels Heliopark in Leukerbad statt und wurde vom Englischen ins Deutsche übertragen.

 

Saiten: Sie sind Romancier, Essayist, Reporter, Journalist und Historiker. Darüber hinaus stellt ihr Buch Aus den Ruinen des Empires gerade für Politische Theorie eine wichtige Quelle dar. Darf man Sie also auch als politischen Theoretiker bezeichnen?

Pankaj Mishra: Ich bin unsicher, ob ich mich legitimerweise als politischen Theoretiker bezeichnen könnte, weil ich nicht wirklich eine politische Antwort auf Fragen habe. Ich denke mein Rahmen ist nicht so sehr Gesellschaftliches, als vielmehr das Individuum und dessen Träume, Begehren und Fantasien.

Einen der «Helden» Ihres Buches ist Jamal al-Din al-Afghani, den Sie als anti-kolonialistische Version eines Karl Marx vorstellen. Michel Foucault wiederum erhielt viel Kritik nach seinen Reportagen aus Teheran vor und während der iranisch islamischen Revolution, bei welcher al-Afghani eine wichtige theoretische Position darstellte. Der französische Philosoph beschrieb die Situation als aufkommenden «politischen Spiritualismus», eine Wortwahl die im sogenannt «säkularen Westen» für einige Irritation sorgte. Nun etwa 40 Jahre später, löste ihre preisgekrönte Arbeit sehr ähnliche Reaktionen in deutschen Medien aus. Beispielhaft könnte man die Worte der deutsch-türkischen Soziologin Necla Kelek in die Welt anführen, welche Aus den Ruinen des Empires als antieuropäische Streitschrift bezeichnet, deren Mangel es ist, die brutalen Seiten des Antikolonialismus oder die befreienden Ebenen der Kolonialmächte zu erwähnen (sie schrieb auch, dass Sie dies einen sehr westlichen Blickwinkel nennen würden). Ist dies nur ein typisches Missverständnis zwischen Soziologie einerseits und einer Archäologie des Wissen und Philosophie andererseits, oder tatsächlich Ausdruck einer tiefen Dichotomie zwischen «dem Westen» und «der islamischen Welt» oder «Asien»?

Ich denke, eine Art diese Frage zu beantworten, wäre zu sagen, dass diese Arten von Unterscheidungen, «Islam gegen den Westen», «der Westen gegen den Osten» menschgemachte Kategorien sind, menschgemachte Konstruktionen sind. Sie dienen (in den meisten Fällen) einem spezifischen Zweck. Als al-Afghani also im späten 19. Jahrhundert agitierte, versuchte er Muslime zu mobilisieren gegen das, was er als Bedrohung für ihre Gesellschaften, Ökonomien und politischen Institutionen erlebte. Er postulierte also diesen Begriff des Westens – genaugenommen war er der erste, der den Islam gegen den Westen ins Spiel brachte. Der Westen war für ihn aber mehr eine Abkürzung, um eine ganze Reihe von Herausforderungen zu beschreiben, die an die muslimischen Gesellschaften gestellt wurden. Es gab die implizite Anerkennung, dass die Welt eins wurde, sogar bei al-Afghani im späten 19. Jahrhundert. Da gab es eine Wirklichkeit, welche diese Dichotomien übersteigt, auferlegt in der Tatsache, dass diese Herausforderungen auch in westlichen Gesellschaften vorhanden waren: die Herausforderungen an das wirtschaftliche Leben der Leute, dass damals zur genau gleichen Zeit eine massive Transformation in Europa vonstatten ging – in Deutschland, in Italien – welche Mythologien wie den Antisemitismus entfesselte, die im Wesentlichen den Boden bereiteten für das, was im frühen 20. Jahrhundert passierte. Ich denke also, dass es sehr wichtig ist, zu sagen, dass Leute wie al-Afghani neben vielen anderen in dieser Periode sowohl ein Unbehagen, als auch eine Entfremdung artikulierten gegenüber der schwer beunruhigenden Art und Weise der Zivilisation. Leute im Westen taten dies, Leute im Osten genauso. Diese Kategorien waren für die meisten Leute Abkürzungen, um ihre eigene Situation zu beschreiben, in welcher sie geographisch angesiedelt waren.

Wenn also diese Person, die ich nicht wirklich kenne, sagt, ich sei antieuropäisch, versteht sie nicht, dass die größten Kritiken gegen Europa von innerhalb Europa selbst kamen. Das ist es, was solche Leute nicht verstehen, weil sie aus beruflichen Gründen oder solchen aller Art dermaßen eingenommen davon sind, diese Dichotomie beizubehalten: dass der Islam eine Sache ist, und der Westen ein anderes, höheres Ding. Was sie nicht verstehen: Die größten Kritiken der westlichen Ideologien von Wohlstand und Macht, die einflussreichsten, von Nietzsche bis Foucault, kommen alle aus dem Westen!

Ihr Essay über Isis im «Lettre International» schließt mit den Worten: «Doch ist enorm viel radikales Denken nötig, wenn wir verhindern wollen, daß das Ressentiment noch größere Flächenbrände entfacht». Das Wort «Flächenbrand» suggeriert, dass Sie Foucaults frühen Prognosen über den politischen Islam folgen, und «Ressentiment» klingt nach einem nietzscheanischen Terminus um ein philosophisches Problem zu benennen, das nicht nur auf die großen politischen Aufgaben hindeutet, sondern genauso auf die Mikro-Ebene von Wissen und Macht. Eine journalistische Lesart ihrer Konklusion könnte ihr Konzept des «radikalen Denkens» missverstehen, weil «radikal» etwas ist, was böse Buben ausmacht. Könnten sie die Differenz von «radical thinking» und einem «thinking radically» erklären, und aufzeigen, wie radikal denken Populismus, Ressentiment und Vorurteile bekämpfen kann?

Ich denke radical thinking in diesem Kontext wäre, jemandem wie Nietzsche eine weite Strecke zu folgen, aber an dem Punkt zu stoppen, wo er eine Lösung zur Überwindung von Ressentiments postuliert: nämlich die Selbst-Überwindung, der Übermensch, der die ordinäre Moral einer Gesellschaft, die die Individuen zusammenhält in jeder möglichen Gesellschaftsform verachtet, der seine eigenen Regeln macht, der seine eigenen Objekte des Begehrens kreiert. Das ist allerdings ein katastrophales Projekt, was man im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sehen konnte, als Leute begannen, diesem bestimmten nietzscheanischen Modell der individuellen und kollektiven Selbst-Überwindung zu folgen, was zu den totalitären Regimes im frühen 20. Jahrhundert führte. Seine radikale Kritik des Individuums, als vom ganzen Aufklärungsbegriff des Individuums konstituiert von rationalem Eigeninteresse und verständlichen Begehren, denke ich, ist etwas, das noch immer am Leben ist. Und das verbindet Nietzsche mit der Figur des Buddhas, von dem er, wie man weiss, besessen war.

Ich habe ein Buch über Buddha geschrieben, worin ich einige Vergleiche der beiden herausarbeite. Nietzsche ist sich in mehrfacher Hinsicht bewusst, dass das, was er sagt, schon mal gesagt wurde von Buddha, dass Buddha selbst auf eine radikal moderne Situation antwortet – zu seiner Zeit, als Leute aus traditionellen Gesellschaften ausbrachen und sich als Individuen individuell verloren wiederfanden, ohne eine Ethik. Auf diese existenzielle Situation reagiert er, wodurch er sehen konnte, dass sie in mehrfacher Hinsicht entlang derselben Linien dachten. Buddha hatte aber eine andere Lösung zu diesem Problem: Er stellte das Individuum und die individuellen Begehren unter Verdacht, statt sie zu erheben. Insgesamt geht Nietzsche also in eine andere Richtung.

Ich denke, dass jemand wie Foucault auf seine eigene Weise versuchte, zu einer Art von buddhistischer Lösung zu kommen, nur dass er darin falsch lag, die iranische islamische Revolution als Ausdruck von «politischem Spiritualismus» zu sehen, weil diese tatsächlich ein grundsätzlich modernes Ereignis war. Es war nicht, was er dachte, dass es war. Khomeini und dessen ganze Vorstellung der Revolution stammte von dem pakistanischen Ideologen Sayyid Abul Ala Maududi, der sie wiederum von Lenins Konzept einer revolutionären Avantgarde ableitete: Khomeini war ein radikaler Erneuerer innerhalb des Islams. Im Schiismus gibt es nichts, das eine Vormundschaft der Juristen vorsehen würde – das war Khomeinis Erfindung. Schiismus ist eine politisch-quietistische Religion. Er erfand also hauptsächlich, und dies vermochte Foucault nicht zu sehen zu der Zeit. Es war zu früh in der Geschichte des islamisierten Radikalismus.

Der Heimatstaat von Rabindranath Tagore wird nun, nach 34 Jahren unter der Regierung der kommunistischen Left Front, seit ungefähr fünf Jahren von Mamata Banerjee und ihrem AITC (All India Trinamool Congress) regiert. Aktivist*innen aus der Kulturszene berichten von einer Art Exodus von Rockbands zum Beispiel: Die kulturelle Hauptstadt Indiens verliert ihre Kinder. Sogar in Kalkutta ist Tagores Spirit politisch gesehen abwesend, und ein sehr europäisches Phänomen taucht auf: Populistische Kräfte übernehmen und praktizieren eine polizeiliche Art, Probleme zu lösen. Ist Anti- und Postkolonialismus immer noch denkbar als fanonscher antiimperialistischer Nationalismus, oder ist die größere Aufgabe, (worüber Fanon an anderen Stellen auch arbeitet) Identitäres zu dekonstruieren?

Das klassische kommunistische Projekt ist meiner Meinung nach vorbei. Die ganze Vorstellung von zu mobilisierenden Massenenergien für ein kollektives Projekt kann nicht mehr funktionieren. Wir sind nun im Zeitalter des Individualismus, und ich vermute, sogar ein antiimperialistisches Projekt würde daran scheitern, heute seinen Feind zu definieren: Der Feind ist überall. Er ist sehr vertraut. Das ist ein riesiges Problem für das linke Projekt, für das alte linke Projekt, das sehr darauf beruhte, besondere Klassen, die Opfer waren, und besondere historische Agenten zu identifizieren, die soziale Veränderung, wenn nicht die Revolution bringen sollten. Was wir gesehen haben, ist, dass diese Formationen verschwanden. Dass Klasse nicht identifiziert, geführt und mobilisiert werden kann, nicht nur in Indien, sondern in den meisten Gesellschaften dieser Erde. Wie Marx selbst sagte: «Alles Solide löst sich auf zu dünner Luft» [sinngemäss nach dem kommunistischen Manifest], nur das in diesem Kontext, alle Kategorien und Konzepte, die eingesetzt wurden, um Wechsel, Transformation oder Revolution zu postulieren, am verschwinden sind.

Wir sind also insgesamt wirklich in eine andere politische Welt eingetreten, darum ist Politik auch überall in so einem Chaos, nicht nur in den Westbengalen oder in Delhi. Es ist das Individuum, das auf einmal souverän ist, das wie immer, durch konfligierende widersprüchliche Begehren hier und da hin geleitet wird, in einem Moment für das Verlassen der europäischen Union stimmend, in einem anderen Modi in Delhi an die Macht wählend, in weiteren sich gegen Immigration wendend. Dieses spezielle Individuum, das die große Errungenschaft der modernen Zivilisationen hätte sein sollen, das rationale, autonome, selbst-motivierte und eigennützige Individuum ist nun eine universale Figur. Und mit seiner Erscheinung sind all die politischen Kategorien, diees begleiten sollten, die es einflussreich machen sollten, gleichzeitig verschwunden. Man verstehe: Das ist ein sehr merkwürdiger Zeitpunkt, worin wir uns gerade befinden.

Diesbezüglich kommt es also nicht mehr darauf an, ob man sich in Kalkutta oder in England befindet?

Exakt.

In seiner Nobelpreis-Rede spricht Tagore über sein Hauptziel; Osten und Westen zusammenzubringen, insbesondere im Bildungswesen. Er schlägt vor, dass ein gegenseitiges Lernen von einander möglich sei, was nicht nur der westlichen, kolonialistischen Ignoranz entgegensteht, sondern mehr noch dem Grenzen bauenden Geist von Nationalisten, Politikern und Priestern überall und überhaupt. Könnte das die Vision einer anderen, sozialen Globalisierung sein, die nie stattgefunden hat, oder gibt es im ökonomischen Aufschwung in Asien etwas (dabei die ironische Situation mitdenkend, welche Sie kürzlich ansprachen, dass das Vereinigte Königreich nach dem «Brexit» nun komplett von China abhängig ist, dass die kolonialistischen Machtverhältnisse auf dem Kopf stehen), was in Richtung von Tagores Ideal einige Hoffnung erlauben könnte?

Nun, wie man weiß, war Tagore ein profunder Kritiker des Nationalismus, weil er früh begriff, dass das autonome und eigennützige Individuum, das von den Revolutionen der Moderne entfesselt wurde, etwas ist, das sich unweigerlich dem Nationalismus zuwenden wird, aus Enttäuschung, aus Frustration und Ressentiment, als Bereich von Identität. Dies ist es, was gerade überall in Europa passiert: Das sich selbst isoliert findende Individuum, für das Gesellschaft und Staat fortwährend zurückgingen, wird nun von der giftigsten Form des Chauvinismus angezogen, dem Nationalismus. «Mein Land zurücknehmen», «ich will mein Land zurück»: Diese Art von Rhetorik sehen wir überall.

Tagore hingegen wusste, dass es mit diesem im Westen aufgetauchten Modell maximierten Wohlstands und maximierter Macht durch individuellen Wettbewerb ein Problem gab, und dass die Lösung für dieses Problem für die meisten Menschen im Nationalismus liegen würde. Man sollte Nationalismus also gleich von seinem Beginn weg kritisieren, und als Fehler und Mystifikation sehen, welche den realen Ursprung des Leides verbirgt. Ich sehe sein Projekt in diesem Kontext, die Leute unterschiedlich auszubilden, und diese sich selbst sowohl in West und Ost als gleichermaßen unabhängig sehen zu lassen, und nicht als Individuen gegen andere Individuen, Individuen gegen die Natur, oder Individuen der Gesellschaft entgegengestellt. Er zerbrach dieses spezifische Modell, wie man sehen kann, und ich denke, das darin sein Genie lag.

Ist der Isis ein Symptom eines aufkommenden dritten Weltkriegs, wie Sie in ihrem Essay sagen? Würde eine solche Sichtweise helfen, die Dimension weltweiter politischer und militärischer Kämpfe einzuordnen, oder wäre es gescheiter, spezifische Differenzen von näher zu betrachten? Und weiter: Braucht die Welt mehr Reportage oder mehr Theorie?

Ich glaube, es braucht ein wenig von beidem. Wir sind ans Ende einer bestimmten Art von Journalismus gekommen, der von Theorie nichts versteht, der einem intellektuellen Rahmen völlig entbehrt, ausser dem maximal vulgären, der besagt, dass alle wie der Westen sein sollen, und wenn sie es nicht sind, mit ihnen etwas nicht stimmt. Es wird zwar noch passieren, aber ich denke, dass dies zu Ende gekommen ist und die Glaubwürdigkeit verloren hat: Das hat keine Zukunft in irgendeiner Weise.

Isis ist ein wiederkehrendes System, dass für uns nur komisch aussieht, weil wir eine ganze Tradition von anarchistischem Terrorismus vergessen haben, der inmitten von Europas Herzen stattfand. Dass tatsächlich in mehrerlei Hinsicht eine ganze Flut von Bombenattentaten, Morden und Massakern in öffentlichen Räumen den Weg bereitet haben zum ersten Weltkrieg. Denkt man zurück, wie viele Leute in den 1880er- und 90er-Jahren ermordet wurden, etliche Staatsoberhäupter, einschliesslich des Präsidenten der Vereinigten Staaten William McKinley, die Könige von Spanien und Italien, der Premierminister von Frankreich: Das ist aussergewöhnlich! Junge Männer überall schlossen sich Gruppen an, begingen Gewalttaten, äußerst brutal auch in Frankreich. Es war ein Zentrum für terroristische Bewegungen aller Art, von z.B. rechten nationalistischen Bewegungen. Junge Männer suchten Gewalt als eine Art von existenzieller Erfahrung: es gab Theoretiker wie Georges Sorel, welche das gar theoretisierten, man hatte Bakunin, der Zerstörung als kreative Leidenschaft propagierte.

Ich denke also, dass Isis eine Manifestation desselben Phänomens darstellt in spät modernisierenden Ländern, in Ländern mit junger Bevölkerung, die spät zur modernen Welt hinzukamen und nun dieselben Pathologien manifestieren, welche Frankreich, Italien und Russland einst hatten: frustrierte junge Männer, bis zu einem gewissen Grad gebildet, die dann herauszufinden, dass die Früchte der Moderne für sie zu weit weg sind. Alle voll von Selbstzweifeln, Selbsthass, die eigene Anziehung zur Modernität verabscheuend, und diese in spektakulären Formen von Gewalt herauslassend. Dostojevskij schrieb über diese Figuren die ganze Zeit. Ich denke daher, dass Journalismus nicht nur Theorie, sondern auch Literatur und Geschichte kennen muss, um aus einer derartigen Organisation schlau werden zu können. Nur «Islam! Islam! Islam» zu schreien, wird einen nirgendwo hin bringen.

Silvia Federici benutzt in ihrem herausragenden Werk Caliban und die Hexe das Paradigma der europäischen Hexenjagd, um eine zu schreibende Geschichte zu umreißen, die in den Werken von Marx und Foucault zum Beispiel fast komplett fehlt. Könnte man Feminismus als vereinigende postkoloniale Kraft sehen, entgegen den spaltenden Dichotomien Westen/Osten, Westen/Islam, Hindu/Islam etc.? Könnte es sogar die Einzige sein?

Ich denke, es ist die Einzige. Und ich habe das Gefühl, dass nichts dringender gebraucht würde als eine feministische Lesart der modernen Geschichte. Und eine systematische Untersuchung bis hinein in die Wurzeln des modernen Selbst aus einer feministischen Perspektive – die Wurzeln, die Basis der modernen Individualität – mit Fokus auf den menschlichen Körper, auf «Körper». Ja, zu diesem Zeitpunkt gibt es nichts Dringenderes als dieses Projekt.

 

Ausgewählte Werke und Aufsätze von Pankaj Mishra zum Thema:
Aus den Ruinen des Empires, S.Fischer Frankfurt a.M. 2012
An End to Suffering – the Buddha in the World, Picador New York 2004
Begegnung mit China, S.Fischer Frankfurt a.M.2015
«Isis», in: Lettre International 110/2015
«Der Böse ist immer der Moslem», in: Cicero 10/2010

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