, 11. März 2016
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Objekte mit Kolonialhintergrund

Das St.Galler Völkerkundemuseum eröffnet seinen zweiten Saal mit Objekten von Ägypten bis Polynesien neu. Und zeigt darin Verbindungen der Ostschweiz zur Kolonialgeschichte auf.

Ein Federschmuck der Wachiperi aus Peru. (Bild: Historisches und Völkerkundemuseum)

Ein Federschmuck der Wachiperi aus Peru. (Bild: Historisches und Völkerkundemuseum)

Gegenstände erzählen Geschichte. Zum Beispiel die Benin-Bronzen, eine der weitherum bekannten Kostbarkeiten in der St.Galler Völkerkundesammlung. Früher hätte man sie «einfach» ausgestellt und bewundert – heute erfährt man dank kurzen Infotexten zusätzlich: 1897 hatten die Briten im Zug einer Strafaktion den Königspalast von Benin geplündert, zahlreiche Kunstwerke fanden so den Weg auf den europäischen Kunstmarkt. 40 Jahre später «konnte sich St.Gallen zwei dieser Bronzen ergattern», wie Peter Müller, der Provenienzforscher des Museums, bei einem Medienrundgang erklärte.

Legal erworben zwar – «wir sitzen nicht auf blutgetränkter Raubkunst» –, sind die Bronzen dennoch Zeugnisse einer Geschichte des Imperialismus und Kolonialismus, die sich in der hiesigen wie in jeder europäischen Völkerkundesammlung widerspiegelt. «Die Objekte sind Botschafter von problematischen historischen Entwicklungen», sagt Müller.

Antworten und viele neue Fragen

Solche Zusammenhänge versuchen Müller und Sammlungsleiter Achim Schäfer in der Neupräsentation der Sammlung aufzuzeigen. Das gelingt unterschiedlich, weil zahlreiche Objekte (rund 250 von insgesamt  20’000 sind ausgestellt) schlecht erschlossen sind. «Das Chaos des Sammelns» ist eine der Vitrinen im neugestalteten Ausstellungsraum denn auch betitelt – man wisse vieles nicht, sagen Müller und Schäfer und machen aus der Not eine Tugend: Sie stellen in der Ausstellung selber Fragen an die eigene Tätigkeit und ans Publikum.

Vieles haben die Ausstellungsmacher aber auch herausgefunden – so die Lebensgeschichten der diversen Sammlerinnen und Sammler. Nicht nur Kaufleute und Missionare waren darunter, sondern auch Forschungsreisende, Beamte, Politiker oder Abenteurerinnen.

Vernissage: heute Freitag, 18.30 Uhr

Oder wie der im St.Galler Waisenhaus aufgewachsene Han Coray, einer der frühesten Sammler afrikanischer Kunst, dem das Museum unter anderem die grosse holzgeschnitzte Nkisi-Figur der Songye aus Zentralafrika verdankt. Auch hier aber überwiegen die Fragen: Man weiss, dass die Figur kultischen Zwecken diente und gefüttert wurde, dank einem komplizierten Bauplan im Innern – aber Detailkenntnisse über die Bedeutung fehlen.

Ausführliches erfährt man dafür über ein weiteres, hier erstmals in aller Pracht präsentiertes Sammlungsfeld: den Federschmuck der indigenen Völker Amazoniens.

Die Vitrine als Volière

Darunter seien Stücke von grösstem Seltenheitswert. Neben den kunstvoll hergestellten Kopf- und sonstigen Ziergegenständen sind die Federlieferanten ausgestellt: Präparate von Papageien aus dem Naturmuseum. Die Vitrine als Volière – das bietet spektakuläre Schaulust und wird ergänzt um einen Film, der einen der letzten noch tätigen Federschmuck-Künstler bei der Arbeit zeigt. Für Ausstellungsleiter Achim Schäfer ist zentral, dass die Schau nicht nur den Dingen, sondern auch den Menschen und ihrer grandiosen, oft mit einfachsten Werkzeugen ausgeführten Tätigkeit Respekt zollt.

Ein Begleitheft informiert über rund zwei Dutzend Sammlerinnen und Sammler, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in aller Welt unterwegs waren und aus unterschiedlichsten Motiven die heute in St.Gallen vorhandenen «Welten» sammelten: aus Neugier und Faszination fürs Fremde, aus kolonialer Überheblichkeit oder aus Geschäftstüchtigkeit. Es sind Leute wie die Reiseschriftstellerin und Sammlerin Lina Bögli oder die Malerin und Saharareisende Trudi Schneebeli, der Fotograf August Täschler, der Geologe Arnold Heim, die Missionsärztin Bertha Hardegger oder der Thurgauer August Künzler, der als Tierhändler in Tanzania Karriere machte.

Frühzeit der Globalisierung

Damit sei die Völkerkundesammlung zugleich ein Stück Stadt- und Ostschweizgeschichte: Sie verdanke ihre Existenz vorrangig der St.Galler Stickereiblüte, stellen Müller und Schäfer klar. Bis zu deren Ende im Ersten Weltkrieg war die Stadt «eine kleine Weltstadt» mit weitverzweigten Handelsbeziehungen, mit Verkehr aus der Stadt in die Welt und umgekehrt. Von dieser Frühzeit der Globalisierung zeugen neben den Gegenständen der Sammlung auch Dokumente, die Müller in einer Ecke der Ausstellung präsentiert – von der «Negerin», die Ende des 19. Jahrhunderts ein paar Wochen im Neubädli serviert hat und als Attraktion in einem Inserat angekündigt wird, bis zum Kampf um die Umbenennung der Krügerstrasse im Lachenquartier.

«St.Gallen und der Kolonialismus» – diese Geschichte sei allerdings erst lückenhaft aufgearbeitet, trotz dem Sklavereibuch von Hans Fässler oder trotz Einzelforschungen etwa zur 1878 gegründeten Ostschweizerischen geographisch-commerciellen Gesellschaft (OGCG). Der neue Ausstellungssaal, der die bereits letzten Herbst eröffnete Ausstellung über Indianer und Inuit ergänzt, bietet Mosaiksteine zu dieser Geschichte und lädt zum Weiterdenken und -forschen ein.

Wie zweischneidig es seit jeher war und ist, die «exotischen» Welten hierher zu verpflanzen, kommt in einem Brief der Missionsarin Helene Haegele-Schlatter zum Ausdruck. 1937 schildert sie dem damaligen St.Galler Museumsdirektor Krucker, wie schwierig es sei, in Ghana an «Afrikagegenstände» heranzukommen. Sogar den König habe sie damit behelligt, doch der wiegelte ab: «Er könne auch nicht das Kleinste weggeben, weil alles seine Geschichte habe».

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