, 18. Januar 2017
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Selber denken. Und zuhören

St.Gallen hat eine neue Stadtparlaments-Präsidentin, die jüngste in der Geschichte der Stadt. Am Dienstag ist Franziska Ryser, Jahrgang 1991, einstimmig zur höchsten St.Gallerin gewählt worden. Der Stadtpräsident reagierte säuerlich.

Die Wahl war klar, eine Formsache: Franziska Ryser von den Jungen Grünen löst Heini Seger (SVP) auf dem Präsidentinnenstuhl ab, Gallus Hufenus (SP) wird neuer Vize. Keine Gegenstimmen – auch wenn das erstmals angewendete elektronische Abstimmungstool im Waaghaussaal die Parlamentarier stärker auf Trab hielt als das Wahlgeschäft selber.

Sie sehe sich als Vertreterin einer jungen, offenen und toleranten Stadt, sagte die neugewählte Präsidentin. Und sie hoffe, damit ihrer Generation die Politik näher bringen zu können. Im Parlament dürfe hitzig debattiert werden – doch das Ziel seien konstruktive, der Sache dienende Entscheide.

Lernen von den Robotern

Wie dies gelingen kann? Ryser, studierte Maschinenbauingenieurin und Robotik-Spezialistin, appellierte an die Schwarmintelligenz. Sie funktioniere zumindest bei Robotern nach zwei einfachen Grundsätzen. Zum ersten: Jede und jeder darf die Richtung ändern. Zum zweiten: Jede und jeder reagiert auf die Richtungsänderungen der andern.

Auf die Parlamentsarbeit übertragen, plädierte Ryser dafür, zum einen sich eigene und eigenständige Meinungen zu bilden, und zum andern: einander zuzuhören. Damit wären die Voraussetzungen gut, mehrheits- und tragfähige Entscheide für ein offenes, tolerantes und lebenswertes St.Gallen zu treffen. Langer Applaus aus dem Saal und von der Tribüne quittierte Rysers Antrittsrede.

Chauvinistische Ausrutscher

Jung, grün, weiblich – eine Provokation? Am auf die Wahl folgenden Apero in der Grabenhalle, die Franziska Ryser von ihrer nebenberuflichen Theaterarbeit her vertraut ist, bekam sie das vom Stadtpräsidenten zu spüren.

Scheitlin sprach vorerst humorig davon, er würde sich beinah einen Partei-Übertritt zu den Grünen überlegen – so schnell könne man hier Karriere machen. Dann aber nahm er Mass. Und zählte die neue Parlamentspräsidentin an, in dreierlei Hinsicht.

Zum einen chauvinistisch: Als Stadtpräsident freue er sich auf den Ausgang mit einer schönen jungen Frau.

Zum andern paternalistisch: Als junge Frau habe sie noch keinen Ruf, der ihr vorauseile.

Zum dritten politisch: Ryser sei vor vier Jahren nicht gewählt worden – «nur» nachgerutscht nach dem raschen Parlamentsaustritt ihrer Vorgängerin (kein Wort von ihrer glanzvollen Wiederwahl letzten Herbst). Ryser habe noch keine konstituierende Sitzung erlebt und sei schon auf dem Präsidentinnenstuhl gelandet. Ryser habe gerade mal einen Vorstoss, und dies erst noch zu easy-voting, lanciert (tatsächlich waren es mehrere Vorstösse). Und schliesslich der Horror schlechthin: Auf der Website ihrer Partei stehe noch immer Zürich als Wohnort. Dass sie seit längerem wieder in St.Gallen wohnt, aber dass aus Güllen wegmuss, wer es ausbildungsmässig zu etwas bringen will: Das blieb präsidialiter ungesagt.

Bürgerliches Rückzugsgefecht

Lauter Nadelstiche, sagte am Ende ein empörter Apero-Gast. Und: «Das war eine politische Rede.»

Vermutlich war es das. Der Stadtrat ist seit der Wahl im Herbst mehrheitlich links-grün. Im Stadtparlament haben SP, Grüne, Grünliberale und PFG ebenfalls eine wenn auch labile Mehrheit.

Unter diesen neuen Voraussetzungen muss man annehmen: Scheitlins Rede war die, wenn auch unausgesprochene, Abrechnung eines alternden Vertreters einer müd gewordenen und in Bezug auf die Zukunftsfragen der Stadt ratlosen Partei mit der jungen Frauenpower einer aufstrebenden Bewegung. Es war die vergebliche Anstrengung, sich mit Witzen links wie rechts volkstümlich zu machen. Es war der verzweifelte Versuch, die neue Präsidentin und mit ihr die kommende Generation dieser Stadt klein zu halten.

Zugegeben: Ich bin befangen. Ich kenne die neu gewählte «höchste St.Gallerin» persönlich. Aber viele kennen sie in dieser Stadt, viele junge Leute waren an der Feier, man sah ihnen und auch manchen Alten die Verärgerung über die Scheitlin’schen Untertöne an.

Bleibt die Hoffnung, dass der Kleinhalte-Versuch nicht gelingt. Und dass das Parlament, wie es der scheidende Präsident Heini Seger (SVP) sagte, seine Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive weiter wahrnimmt – auch in Fragen des politischen Stils.

Bilder: Augustin Saleem

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