, 5. April 2014
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Stadt, Wald und Labor als Lernraum

Das Schulzimmer ist passé. An seine Stelle treten neue Lernumgebungen: Lernateliers für bis zu 60 Kinder – oder der Wald und die Stadt. Eine Exkursion durch Lernlandschaften von David Nägeli mit Bildern von Hannes Thalmann.

«Die meisten Schulgebäude erinnern heute an Krankenhäuser, Finanzämter oder Kasernen», schreibt der populäre Philosoph Richard David Precht in der «Zeit». Seine Thesen für eine Schulreform liefern Deutschland viel Diskussionsstoff. «Ein Kind hat drei Pädagogen. Der erste Pädagoge: Die anderen Kinder. Der zweite Pädagoge ist der Lehrer. Der dritte Pädagoge ist der Raum», sagt ein geflügeltes Wort aus Schweden. Zurecht, meint Precht, und schildert ein deprimierendes Bild moderner Schulen: «Lange, fantasieverlassene Flure, von denen in Reih und Glied die Zimmer abgeben. Als man solche Schulen baute, wusste man nahezu nichts über das Lernen und fast ebenso wenig über die Psychologie von Kindern. Vorbild waren die Verwaltung und das Militär.»

Für viele staatliche Schulen trifft dies heute noch zu: Die Gänge sind weiss und kahl, die Pulte in den durchschnittlich neun auf sieben Meter grossen Klassenzimmern brav aufgereiht – wie Soldaten zum Appell. Private Schulen hingegen experimentieren seit rund zweidutzend Jahren mit neuen Unterrichtsräumen. Und allmählich ziehen die staatlichen Schulen nach: Nach dem Vorbild der Privaten werden aus Schülerinnen und Schülern Lernpartner und aus Lehrkräften Lernbegleiter, die begeistert durch Hügel und Täler der Lernlandschaften wandern.

Lernbegleiter und Lernlandschaften

Ein Vorzeigeobjekt ist zurzeit die Oberstufe in Herisau. Bis vor wenigen Jahren gab die Schule noch kein gutes Vorbild ab: Mobbing, Vandalismus und Prügeleien auf dem Schulgelände wurden sogar von Einwohner- und Gemeinderat diskutiert. «Wir hatten an der Oberstufe eine Zweiklassengesellschaft», sagt Annette Joos-Baumberger, Gemeinderätin und Ressortchefin Schule. «Einige Eltern erklärten, ihre Kinder lieber privat unterrichten zu lassen, als sie in die Realschule zu schicken.» Damit nicht genug: Der Kanton machte Druck. Als letzte Gemeinde im Kanton sollte Herisau die Oberstufe auf ein integratives oder kooperatives Modell umstellen. Die Lösung: Ein knapp 2,5 Millionen teurer Umbau und die Einführung von Lernlandschaften – frei nach dem Vorbild der Privatschulen des SBW Haus des Lernens und der Sekundarschule Bürglen, die bereits 2005 Lernlandschaften eingeführt hat.

Eine Lernlandschaft sieht so aus: Bis zu 60 Schülerinnen und Schüler (oder: Lernpartner) sitzen in einem grossen Raum. Die Tische sind im Raum verteilt und sehen vielgestaltig aus: «Alle Schüler können ihr Büro selbst gestalten», sagt Joos. «Manche Pulte sind karg, andere mit vielen Bildern farbig dekoriert.» Feste Klassen existieren nicht mehr, je nach Fach sind die Schülerinnen und Schüler in verschiedene Niveaus eingeteilt – mindestens einen Drittel der Zeit arbeiten sie jedoch selbstständig an individuellen Aufträgen. Das Lehrerpult ist aus dem Raum verbannt, und mit ihm einer der grossen Stützpfeiler des klassischen Frontalunterrichts. Dieser findet in kleinen Input-Zimmern neben der Lernlandschaft statt. Die Lehrerinnen und Lehrer (oder: Lernbegleiter) sitzen im Dreier- oder Viererteam an einem eigenen Tisch inmitten der Lernlandschaft.

Lernlandschaft der Sekundarschule Ebni

«Schule wie im Grossraumbüro», titelte die «Thurgauer Zeitung» zur Oberstufe in Bürglen. Das klingt wenig begeistert – doch das Modell gefällt Lehrern, Eltern und Schülern in Herisau gleichermassen. «Im Einwohnerrat standen alle Parteien hinter dem Umbruch», sagt Annette Joos. «Und auch die vielen Fragen, die von Eltern an uns gestellt wurden, haben sich langsam gelegt.» Neben der dringlichen Situation in Herisau habe auch die wachsende Bekanntheit der Lernlandschaften für Wohlwollen der Eltern, der oft kritischsten Anspruchsgruppe einer Schule, geführt.

Lernlandschaften sind auch für kleine Gemeinden attraktiv: Der Lehrermangel scheint zur chronischen Krankheit geworden zu sein und in Dörfern schrumpfen die Klassen. Mit Lernlandschaften können diese zusammengelegt werden – und: wenn Kinder selbständiger arbeiten, kann das die Schule entlasten.

Während sich die staatlichen Schulen in Lernlandschaften verwandeln, sind die Privatschulen bereits einen Schritt weiter. Stefan Gander, Schulleiter der Neuen Stadtschule St. Gallen, hat – zusammen mit Peter Fratton – als einer der ersten in der Schweiz Lernlandschaften eingeführt und die SBW in Herisau aufgebaut. Heute besucht er mit den Schülerinnen und Schülern der privaten Neuen Stadtschule regelmässig die Dufourstrasse 76 am Rosenberg, wo Bauarbeiter die ehemalige neuapostolische Kirche in eines der modernsten Schulhäuser der Schweiz verwandeln. Wenn man die Sekundarschulen Bürglen oder Herisau mit Grossraumbüros vergleicht, baut die Neue Stadtschule an der St.Galler Dufourstrasse das schulische Äquivalent zu den Google-Büros im Silicon Valley.

Rechnen an der Leonhardsbrücke

Mit Bauhelmen und iPads ausgerüstet besichtigen die Jugendlichen die Baustelle. «Hier kommt die Mensa hin, da das Lernatelier und dort das Kino», berichten sie und schiessen Fotos, um den Bauprozess zu dokumentieren. Ab dem Sommer entsteht hier ein Schulraum 3.0 (nach den Lernlandschaften, der Version 2.0). Ein modernes «Lernbasislager», wie es die Neue Stadtschule nennt: Vortrags- und Filmraum mit Kopfhörern an jedem Sitzplatz, ein Gruppen- und Kreativraum mit einer riesigen Papierrolle für Brainstorming-Lernen, ein Lounge-ähnliches Input-Zimmer, in dem iPads die Wandtafel ersetzen und mittendrin: mobile Lernbüros mit integrierter iPad-Ladestation für jeden Lernpartner. Und auch ein oder zwei Videokameras, die die Kinder mit dem Lernbasislager in Kontakt halten. Denn der wichtigste Lernort der Neuen Stadtschule, das steckt bereits im Namen, liegt ausserhalb des Schulhauses.

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«Die Jugendlichen lernen in und von der Stadt», sagt Gander. «Und verarbeiten danach die erworbenen Erfahrungen und Inhalte im Basislager.» Man kann sich das so vorstellen: Die Kinder berechnen die Höhe des Vadian-Denkmals, das Durchschnittstempo eines Autos auf der St.Leonhard-Brücke oder den Anteil an Männern und Frauen, die den H&M Store an der Multergasse betreten. Eine Schülerin, die durch «Germany’s Next Topmodel» ein Interesse für Mode entwickelt hat, erkundet Stickereien und interviewt Models. Die Lernenden besuchen die Schreinerei, welche die Holztische für das neue Schulhaus zimmert und erfahren einiges zum Handwerk.

Gallus wird zum dritten Pädagogen – eine Idee, die auch ausserhalb der Neuen Stadtschule Anklang findet. Gemeinsam mit der Pädagogischen Hochschule entstand ein Lernheft für die Sekundarschule, welches mathematische Aufgaben anhand von Alltagsobjekten der Stadt stellt. Die Aufgaben sind «old school», etwa: Bestimme den Mittelpunkt eines Kreises und markiere ihn. Nur ist hier der Kreis keine Illustration auf Papier, sondern die Rondelle im St. Galler Stadtpark. Wenn in klassischen Schulzimmern fiktive Cumulus-Punkte in Rechenaufgaben Anschaulichkeit simulieren, lässt das Stadtschul-Modell die Jugendlichen in der Migros selbst rechnen. «Das Lernen wird sinnhafter und sinnlicher und gleichzeitig effizienter», ist Gander überzeugt.

Ideen für die Zukunft bestehen bereits: An Stellen in der Stadt könnten QR-Codes angebracht werden, die die Schüler mit ihren Schul-Tablets einlesen können. Danach erscheinen auf den Tablets die passenden Lerninhalte, natürlich multimedial aufbereitet. Kleine Computer als tragbare Lernbegleiter beim Erkunden der Stadt: In Zeiten von Google Maps und Restaurant-Führern auf dem Smartphone scheint das zeitgemäss. Und wenn Gander danach erzählt, dass die Jugendlichen auch am Bahnhof lernen, Fahrpläne zu lesen, wirkt das beinahe schon überraschend – immerhin gibt es eine SBB-App fürs Handy.

Hinter der Neuen Stadtschule stehen bekannte Namen aus dem Bildungsbereich. Neben Stefan Gander gehört auch Peter Fratton zu den Gründern. Fratton ist Ex-Realschullehrer, der 1980 das erste SBW Haus des Lernens gegründet, und seither diverse Schulen in- und ausserhalb Europas mitaufgebaut hat. Keine unumstrittene Person: Verschiedene Medienberichte aus der Schweiz und Deutschland rechnen einer «seiner» ehemaligen Schulen unterdurchschnittliche Quoten an. Von seiner prägenden Rolle bei der Schulreform in Baden-Württemberg verabschiedete er sich nach wachsendem medialen und politischen Druck im vergangenen Sommer. Viele Lehrkräfte jedoch fühlen sich in seinen Ideen aufgehoben und erleben als Lern-Begleiter mit den Lern-Partnern im Lern-Atelier eine zweite Berufsjugend.

Die Neue Stadtschule ist eine Aktiengesellschaft mit der Hauptaktionärin Bettina Würth, Vorsitzende des Stiftungsbeirats der Würth-Gruppe, sie wohnt in unmittelbarer Nähe der Neuen Stadtschule. Seit einem familiären Todesfall hat sich die zugezogene St.Gallerin zum Ziel gesetzt, Schulen zu gründen, «in denen kein Kind übersehen wird». Ihre grosse finanzielle Unterstützung ist auch nötig, denn die Neue Stadtschule (als eines der avantgardistischen Schulhäuser der Schweiz) ist ein teures Projekt. Mit vergleichsweise hohen Schulgeldern: Zwischen 21’000 und 25’000 Franken jährlich. «Mit Hilfe von Stipendien versucht man aber trotzdem ein breites Spektrum an Schülern aufnehmen zu können», sagt Gander. Momentan besuchen zwölf Jugendliche die Schule, in drei Jahren sollen es 60 sein.

Der Wald als Basisstufe

Die Neue Stadtschule liegt in unmittelbarer Nähe der International School, einer Schule der Muttergesellschaft SBW Haus des Lernens (auch mit Lernlandschaften). Und am gleichen Ort trifft man des Öfteren auf die in Schale geworfenen Schülerinnen und Schüler des Instituts auf dem Rosenberg, dem «Club der reichen Erben» («Der Spiegel»). Auf dem gegenüberliegenden Hügel, in der Notkersegg, ist das klassische Schulzimmer ebenso Geschichte wie am Rosenberg. Doch das Umfeld ist ein anderes: Auf dem Weg zur Waldbasisstufe der Waldkinder St.Gallen trifft man auf Hühner im Vorgarten statt auf Anzugsträger. Was die Neue Stadtschule im Urbanen entdeckt, sieht der Verein Waldkinder St.Gallen im Wald: einen sinnlichen Raum zum Lernen – die Natur selbst wird zum dritten Pädagogen.

Waldschule

«Der Wald als Lernraum bietet den Kindern viel», erzählt Caro Knoepfel, die seit zehn Jahren für die Waldschule arbeitet. «Sie können ihn mit allen Sinnen erforschen. So werden Lernprozesse mit und durch die Natur initiiert.» Lernraum und Lernstoff verschmelzen: Die Schüler lernen Vögel kennen, indem sie den Wald durchforsten und versuchen, ein Zwitschern oder einen Blick auf eines der Exemplare zu erhaschen. Auch die Lernutensilien stammen mehrheitlich aus dem Wald. Einzig ein kleiner Werkzeugwagen begleitet die Schülerinnen und Schüler beim Lernen. Bei unserem Besuch waren darin einige Meter Seil, ein paar Schaufeln und ein wenig Wolle fürs Basteln zu finden, das restliche Material stammt aus der Natur. Ein Beispiel: «Um zu zählen, wie oft die Kinder bereits einen Vogel zwitschern hörten, sammelten sie alle je zehn Äste ein», erzählt Knoepfel. «Als wir im Kreis standen, kamen die Kinder schnell auf die Idee, alle Äste zu zählen, und schon waren wir bei der Multiplikation angelangt. So lernen Kinder von sich aus, mit der Natur als Lehrer.»

Die Waldbasisstufe lässt den Kindern viel Zeit für freies Spielen. «Sie sollen die Natur eigenständig erfahren», sagt Knoepfel. Die überschüssige Energie, die sich in klassischen Schulzimmern unter der Decke zusammenbraut und Unruhe verursacht, fliesst in die Beine der Kinder, die über Feld und Flur rennen. Die Schule im Wald zeigt auch eindrücklich, wie der «dritte Pädagoge», der Raum, die Kinder beeinflusst: Die Offenheit der Lernumgebung manifestiert sich im Charakter der Kinder. «Lehrkräfte, die die Schülerinnen und Schüler nach der Waldbasisstufe betreuen, loben oft ihre Sozialkompetenz», sagt Knoepfel. «Einzig in der Heftführung und dem Schönschreiben zeigen einige Defizite.»

Das scheint für die Eltern ein angemessener Preis für die Naturnähe im Unterricht zu sein. Der Verein Waldkinder St.Gallen selbst entstand aus einer Elterninitiative. Bis heute sorgt ein Elternbeirat dafür, dass die Nähe zwischen Eltern und Schule gegeben ist.

Vorbild: Hogwarts

Richard David Precht hätte gewiss seine Freude an den Waldkindern: «Ein bisschen Hogwarts tut jeder Schule gut», schreibt er und meint damit Fantasie, Rituale, Bräuche und Traditionen im Schulalltag. In der Notkersegg begrüssen die Kinder jeden Morgen den Wald bei einem gemeinsamen Einstiegsritual mit Kinderliedern. Ein Ast verwandelt sich von einem Längenmessgerät in ein Zählobjekt. Und beim Spielen danach vielleicht auch in einen Zauberstab.

Ein bisschen Hogwarts findet sich aber auch in der Stadtschule: Wenn der dortige Lerncoach Diagramme auf sein iPad statt auf die Wandtafel zeichnet, erscheinen diese sofort auf den iPads der Lernenden – fast wie von Zauberhand.

Waldschule

Dieser Beitrag erschien in der Aprilausgabe von Saiten: Ein Heft zur Bildungsdebatte – freie Schulen, neues Lernen, alte Konflikte.

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