, 27. April 2017
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Von der «Fabrique» zum Touchscreen

In acht Ausserrhoder und St.Galler Museen findet die Ausstellung «iigfädlet» statt. Eins davon ist Herisau, heute abend ist dort Vernissage. Museumsleiter Thomas Fuchs zur Geschichte und Gegenwart der Textilindustrie im Appenzellerland und zu den Erkenntnissen aus «iigfädlet».

Vorbereitung für das Teppich-Tuften, Tiara AG Urnäsch. (Bild: Jürg Zürcher)

Auf der Maschine wurde bis in die 1950er-Jahre Garn zum Zwirnen vorbereitet. Eine solide Konstruktion, Holz und Metall, mit Dutzenden von Rädchen, die die Fadenspulen kunstvoll ins Rotieren bringen, per Treibriemen in Gang gesetzt, alles mechanisch, alles sicht- und nachvollziehbar. Museumsleiter Thomas Fuchs hat die Fachspulmaschine, die ab 1862 in Walzenhausen ihren Dienst tat, aus einem Lager gerettet. Jetzt kommt sie noch einmal in Fahrt im Museum Herisau. Das Einfädeln allein ist eine Sisyphusarbeit – aber passend für ein Ausstellungsprojekt mit eben diesem Titel: «iigfädlet».

Gegenüber im Raum: Mikrogewebe fürs Handy. Siebe für Teigwarenproduktion und Fertigsalatwaschanlagen. Mikrofilter für medizinische Geräte und für Staubsauger. Siebdrucke für Touchscreens oder Heckscheibenheizungen, Kopfhörermembranen, Sonnenschutz-Fassaden. Die Sefar AG in Heiden hat eine Kollektion der von ihr entwickelten und produzierten Hightech-Textilien zusammengetragen – so allgegenwärtig wie unsichtbar die meisten. Und auf Anhieb kaum noch als Textilien erkennbar. (Mehr dazu im Beitrag von Cathrin Caprez im Maiheft von Saiten.)

Zwei Tische weiter: veredelte Stoffe aus der AG Cilander in Herisau, allerfeinste hochweisse Baumwollstoffe, die die Männer der arabischen Oberschicht als Kopfbekleidung tragen. Sie erzählen eine eigene Geschichte der textilen Globalisierung: Der Grund-Stoff kommt aus dem «globalen Süden», aus Indien oder Ägypten, mit all den Fragwürdigkeiten, die sich daraus teilweise ergeben (siehe dazu auch den Beitrag zur Debatte hier) – als hochveredelte Spezialtextilien gehen die Stoffe anschliessend den umgekehrten Weg zurück, über Pariser Haute-Couture-Adressen in die arabischen und auch afrikanischen Abnehmerländer.

Das sind drei von zahlreichen Facetten der Ausstellung, die Thomas Fuchs in Herisau eingerichtet hat. Sie trägt den Titel «Zwirnen, Wirken, Mercerisieren – Fabrikarbeit» und ist eine von acht Museumspräsentationen rund um Textilgeschichte und -gegenwart.

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Saiten: Thomas Fuchs, die erste «Fabrique», die im Appenzellerland diesen Namen trug, entstand 1737 an der Glatt in Herisau, eine Stoffdruckerei. Die grosse Zeit der Fabrikproduktion ist dann das 19. und 20. Jahrhundert. Was ist eine Fabrik?

Thomas Fuchs: Das Neue an der Fabrik war die Arbeitsorganisation; in ihr kommen Leute ausserhalb ihrer Wohnung zum gemeinsamen Arbeiten zusammen – im Unterschied zur damals vorherrschenden Heimarbeit. Im 19. Jahrhundert wird Appenzell Ausserrhoden zu einem der höchst-industrialisierten Kantone der Schweiz. Es ist eine Geschichte mit Phasen der Hochkonjunktur, aber auch mit zahlreichen Krisen. Heute sind die meisten Produktionsbetriebe untergegangen. Mich interessiert in erster Linie die Gegenwart der Ausserrhoder Textilindustrie.

Diese Gegenwart gibt es offensichtlich, wenn man die Hightech-Erzeugnisse etwa der Sefar AG anschaut. Oder Fussball auf einem Kunstrasen von Tisca Tiara spielt. Wird auch noch hier produziert, nicht nur entwickelt?

Es sind eine ganze Reihe von Betrieben am Werk, auf hauptsächlich vier Gebieten: Herstellung von textilen Oberflächen mittels Weben, Stricken oder Tuften, Gestaltung durch Färben oder Besticken und Veredelung. Die Sefar in Heiden produziert mit drei Webereien, in Heiden, Wolfhalden und Thal, daneben mit Betrieben in Rumänien und Thailand. Es gibt die Zwirnerei Nef in Urnäsch, die Weberei Appenzell, die Strickerei Tobler und die Hightech-Stickerei Sonderegger in Rehetobel, den Textilveredler Cilander in Herisau und Koller in Gais, die Scherlerei Tanner in Speicher, Tisca Tiara in Bühler und Urnäsch.

Wie bleibt man im Hochlohnland Schweiz konkurrenzfähig?

Produkte, die sehr hohe Ansprüche erfüllen müssen, werden weiterhin in der Schweiz gefertigt. Wie es längerfristig aussieht, dazu will ich keine Prognose wagen. Sicher ist: Die Textilindustrie ist trotz Automatisierung ein vergleichsweise arbeitsintensiver Produktionszweig. Und vom teils absurden Renditedenken der globalisierten Industriekonzerne sind die hier tätigen Betriebe weniger betroffen. Sie sind, weltweit betrachtet, klein und meist in Nischen tätig. Cilander wird von einer Stiftung getragen, Sefar ist im Besitz mehrerer Gründerfamilien, die meisten anderen sind Familienbetriebe. Da wird nicht spekulativ geschäftet. Allerdings muss man auch sagen, dass die Textilindustrie im gesamten Ausserrhoder Arbeitsmarkt nur noch eine kleine Rolle spielt. 1880 befanden sich 90 Prozent aller Industriearbeitsplätze in der Textilindustrie, 1963 waren es noch 53 Prozent, heute weniger als 5 Prozent. Die grosse Bereinigung fand in der Zwischenkriegszeit statt und noch beschleunigt nach 1980.

Warum kam es dazu?

Die Gründe sind vielfältig. Das hohe Lohnniveau in der Schweiz ist ein Faktor; noch gravierender wirkte und wirkt sich der hohe Frankenkurs aus für die stark exportorientierte Textilbranche. Zum Teil waren auch Nachfolgeprobleme schuld, oder der Investitionsbedarf war zu hoch. Was die Zukunft betrifft, bin ich aber überzeugt, dass das Potential gerade im Bereich von High-Tech-Erzeugnissen noch nicht ausgeschöpft ist, für neue Nutzungen, mit neuen Materialien und Techniken wie der Nano-Technologie. Textilstoffe sind nicht zuletzt dank ihrer Leichtigkeit extrem gefragt. Aber um wirtschaftlich Erfolgt zu haben, braucht es offene Landesgrenzen – die gewaltigen Mühlen, welche die Sefar mit ihren Sieben bestückt, stehen nicht in der Schweiz, sondern zum Beispiel in Nigeria.

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Globalisierung ist keine neue Erfindung – erst recht in der Textilbranche. Mitte des 18. Jahrhunderts errichtete der Herisauer Johann Rudolf Wetter in Südfrankreich eine Baumwollstoff-Druckerei, obwohl dies in Frankreich eigentlich verboten war. 1764 liess er alle Arbeitsprozesse auf grossen Wandgemälden darstellen, bevölkert von Arbeiterinnen und Arbeitern und zum Teil humoristisch überzeichnet: der Drucksaal, der Pinselsaal, wo das damals noch nicht druckbare Englischblau von Hand aufgetragen wurde, der Fabrikhof und weitere Lokalitäten. Die einzigartige Dokumentation aus der Frühzeit der Fabrik ist heute im französischen Orange zu bewundern. Das Museum Herisau zeigt sie in wandfüllenden Reproduktionen. Die Textilunternehmer Wetter in Herisau wurden im Übrigen zum politischen und ökonomischen Konkurrenten der dominierenden Zellweger-Dynastie in Trogen. Deren «Jahrhundert der Zellweger» ist, dank Hörwegen und Ausstellungen rund um den Dorfplatz, in Trogen ganzjährig zu erleben.

Vernissage «iigfädlet» im Museum Herisau:
Do 27. April 19 Uhr
Weitere Vernissagen bis So 30. April
alle Infos: iigfaedlet.ch

Die «iigfädlet»-Ausstellungen in Herisau, Heiden, Urnäsch, Teufen, Stein, St.Gallen,  Altstätten und Ebnat-Kappel nehmen sich stärker der «Geschichte von unten» an. Herisau zeigt Dokumente aus der hiesigen Arbeiterbewegung, etwa die Fahne des Allgemeinen Arbeiterbildungsvereins Herisau, und es werden führende Köpfe porträtiert, darunter Genossin Marie Meier-Zähndler (1877–1946). Sie arbeitet in einer Textilveredlungs-Fabrik in Herisau, ist verheiratet mit einem Bleicher, aktiv im Schweizer Textilarbeiterverband und eine gefragte Rednerin, so zum Beispiel am Frauentag 1915 in Speicher, wo sie zum Thema «Frauen und der Krieg» referiert. Sie setzt sich für die politische Mündigkeit der Frauen ein und dafür, dass ein einziges Einkommen reichen sollte, um eine Familie durchzubringen – Frauenarbeit war damals nicht so sehr ein Privileg als vielmehr wirtschaftliche Notwendigkeit.

Viel mehr wisse man bisher nicht über Marie Meier, sagt Thomas Fuchs – im Gegensatz zu den ebenfalls porträtierten Männern wie dem Weberpfarrer Howard Eugster-Züst oder dem ersten «gewöhnlichen Arbeiter» im Kantonsrat Ausserrhodens, dem Herisauer Färber Konrad Schrämmli.

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Saiten: Was erfährt man aus diesen Lebens-Geschichten?

Thomas Fuchs: Unter anderem, dass sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze, wie wir sie heute haben, keine Selbstverständlichkeit sind, sondern erkämpft werden mussten. Typisch für die neuere Geschichte der Textilarbeit ist auch, dass Schweizerinnen und Schweizer in der Nachkriegszeit kaum noch für Fabrikarbeit zu haben waren. Ein Beispiel dafür ist die 1965 in Urnäsch gegründete Teppichfabrik Tiara. Der Spannteppich boomt in jenen Jahren, die Fabrik ebenfalls, aber Arbeitskräfte müssen in Italien und Spanien rekrutiert werden. Das ging, ein Unikum, soweit, dass das Gemeindemitteilungsblatt von Urnäsch eine Zeitlang auch in Italienisch und Spanisch erschienen ist. Tisca-Tiara ist jene Firma, die seit 2005 auch Kunstrasen produziert und mit dem Rasen für das Stadion von Arsenal London Schlagzeilen gemacht hat.

In der Ostschweiz und in der Stadt St.Gallen spricht man trotz solcher Erfolgsgeschichten vom «Knick» im Selbstbewusstsein, den die Textilkrise für die Region bedeutet habe. Und der bis heute nachwirke. Wie sehen Sie das?

Mein Eindruck ist, dass der damaligen und der Folgegeneration die Krise schon «in den Knochen hockt» und auf die Psyche geschlagen hat. Es gab eine starke Abwanderung in der Zwischenkriegszeit. Überall in Städten, wo die Maschinenindustrie boomt, findet man, teils bis heute, auch einen Appenzellerverein – gegründet von Heimweh-Ausserrhodern. Herisau verliert in kurzer Zeit fast 4000 Einwohner, ein Viertel der gesamten Bevölkerung, Schönengrund ist heute halb so gross wie vor gut hundert Jahren. Solche Brüche bleiben lange wirksam, und es gab sie auch in jüngerer Zeit.  Die Kammgarnspinnerei Herisau, von der wir im Museum ein paar Rest-Knäuel einer Wolle namens Rex zeigen, ist ein Beispiel dafür. 1970 zählt sie noch 75 Angestellte, 1971 folgt die Schliessung. Das sind harte Schläge, für die Leute, aber auch für einen Ort.

Kann man, so problematisch das ist, von Charaktereigenschaften sprechen, welche sich durch die alles dominierende Textilindustrie in unserer Region ausgeprägt haben?

Ein Aspekt ist: Die Heimindustrie, zusammen mit der ihr entsprechenden Streusiedlung, war keine sehr solidarische Arbeitsstruktur. Die Höfe und Höckli stehen für sich; anders als in der Fabrik ist hier die auf sich selber gestellte Familie das A und O. Ein weiterer Aspekt, wenn man so will, ein positiver: Die wiederholten Krisen haben die Leidensfähigkeit der Bevölkerung geschult. Wer nicht auswanderte, führte oft ein karges Leben und stellte wenig Ansprüche. Nicht umsonst hat das Appenzellerland noch heute die tiefsten Krankenkassenprämien und scheut die Politik grosse Investitionen für die Allgemeinheit. Aber solche Fragen einer kollektiven Psyche sind noch wenig untersucht.

Der dominierenden Industriegeschichte zum Trotz ist das Bild des Appenzellerlands bis heute von Senntum und Landwirtschaft geprägt. Wie kommt das?

In der Belle Epoque, mit dem Aufkommen des Tourismus, präsentiert sich das Appenzellerland in der Werbung mit ländlich-konservativen Motiven. In der Zwischenkriegszeit verstärkt sich dieses Bild. So schafft man 1928 etwa eine neue Ausserrhoder Frauentracht und beginnt, Trachtenstoffe zu weben. Es entsteht eine sennisch-bäuerliche Aussenwahrnehmung, die in Innerrhoden noch eher mit der Realität übereinstimmt, weil hier die Industrialisierung schwächer war als in Ausserrhoden. Doch das Bild hat Erfolg – um es etwas bös zu sagen: Man kommt ins Appenzellerland, um «Eingeborene» zu sehen. Ich merke das im Museum selber: Wenn wir Themen abseits appenzellischer Klischees aufgreifen, in letzter Zeit zum Beispiel die Hungerjahre 1816/17, so findet das weniger Resonanz. Ausserrhoden wird reduziert auf ein sehr einseitiges Bild. Ein Hauptgrund dafür ist sicher: Als Industriekanton ist es schwierig, ein Image aufbauen – der Begriff ist heute zu negativ besetzt. Das ist anders als in den Anfängen, in der Zeit der «Fabrique», die für «Fortschritt» stand und für viele Menschen auch ein Stück Freiheit bedeutete.

Thomas Fuchs, 1959, ist Historiker und seit 2007 teilzeitlicher Leiter des Museums Herisau.

Dieser Beitrag erscheint im Maiheft von Saiten.

 

 

 

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