, 1. Juni 2016
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«Wenn Begabung Mangelware wird in der Männerwelt»

Am Dienstagabend wurde in der St.Galler Militärkantine über «Frauen in der Forschung» diskutiert. Dabei zeigte sich: Auch die vermeintlich Privilegierten müssen um Gleichstellung kämpfen.

Von links: Kuno Schedler, Tina Freyburg, Sally Gschwend, Moderatorin Vanessa Jansche, Yvette Sánchez und Christa Binswanger (Bilder: Anne Rickelt)

Gut 50 Personen sitzen im ersten Stock der Militärkantine, darunter auch eine Handvoll Männer. Anders als draussen, wo sich gerade ein Gewitter zusammenbraut, ist die Stimmung im Saal heiter. Doch der Grund für das Treffen ist triftig: Die akademische Welt hat ein Frauenproblem. Oder ein Männerproblem, je nach Sichtweise.

«Frauen sind in der Wissenschaft und an den Universitäten auch im Jahr 2016 noch massiv untervertreten», heisst es in der Einladung des Doktorandennetzwerks der Uni St.Gallen. «An der HSG ist dieser Missstand mit einem Professorinnen-Anteil von nur rund 10 Prozent besonders offensichtlich.»

Wie sich dieser Gender Gap an Universitäten konkret äussert, erklärt Dr. Christa Binswanger, Dozentin für Gender und Diversity und Mitglied der Gleichstellungskommission der Uni St.Gallen, in ihrem Referat. Hier ein paar Zahlen:

  • 2010 lag er Professorinnen-Anteil an den Schweizer Hochschulen bei rund 17 Prozent, jener der Assistentinnen und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen bei knapp über 40 Prozent. In der Administration sind die Stellen sogar fast zu 60 Prozent mit Frauen besetzt. Mit lediglich 10 Prozent Professorinnen-Anteil drücke die Uni St.Gallen den Schweizer Durchschnitt hinunter, hält Binswanger fest, allerdings liege das auch an den verschiedenen Fachbereichen.
  • Gesamtschweizerisch führen die Geistes- und Rechtswissenschaften mit einem Professorinnen-Anteil von 28 bzw. 22 Prozent. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich die Medizin mit 11,7 Prozent, die Naturwissenschaften mit 11,5 Prozent und die technischen Wissenschaften mit 9,5 Prozent.
  • Elternschaft wirkt sich unterschiedlich auf die Publikationsrate aus: Während sie bei den Professorinnen einbricht, steigt sie bei den Professoren an mit der Geburt eines Kindes. Binswanger führt das auf die «Polarisierung der Geschlechtscharaktere» zurück, die sich seit dem 18. Jahrhundert etabliert hat: Männer versuchen ihre familiäre Verantwortung im ökonomischen Sinn wahrzunehmen, während sich die Frauen zuhause um den Nachwuchs kümmern, sprich vor Vereinbarkeitsprobleme gestellt sind.

 

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Christa Binswanger erläutert die Familienzeit

Mehr als einmal verweist Binswanger auf Unis in Schweden, wo beispielsweise keine Sitzungen mehr abgehalten werden nach 18 Uhr – zum Schutz der Familienzeit. Nachhaltig seien solche Modelle und Fördermassnahmen allerdings erst, wenn sie auf Mütter und Väter ausgerichtet seien.

Berufung als letzte grosse Hürde

In der anschliessenden Podiumsdiskussion wird klar: Die Bedingungen eines Lehrstuhls könnte man eigentlich schon fast als ideal bezeichnen, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Wer eine Professur innehat, ist offenbar zeitlich einigermassen flexibel, zudem gäbe es seit den 90er-Jahren auch die Möglichkeit einer Teilzeitprofessur, wie Prof. Dr. Yvette Sánchez, HSG-Professorin für lateinamerikanische Kultur und Gesellschaft, anmerkt. Und: St.Gallen hat immerhin drei Krippen, die mit der Uni zusammenarbeiten.

Aber: In diesen privilegierten Kreis vorzustossen ist alles andere als einfach. Auf einen Lehrstuhl berufen wird nur, wer eine ansehnliche Publikationsliste vorweisen kann, also in einschlägigen Magazinen und Verlagen präsent ist. Vielleicht. Denn zuerst gilt es, durch das Berufungsverfahren zu kommen. Die zuständigen Kommissionen seien aber nach wie vor männlich dominiert, kritisiert Sánchez. «Vieles läuft auf der Mikroebene ab, und je mehr Männer in einer Berufungskommission vertreten sind, desto schwieriger wird es für eine Frau, gewählt zu werden.»

Man müsse auch sehen, wer sich denn auf diese Stellen bewerbe, ergänzt Prof. Dr. Tina Freyburg, die letzten Sommer auf den Lehrstuhl für vergleichende Politikwissenschaften berufen wurde. «Es ist superfrustrierend, wenn man sieht, dass sich viele top-qualifizierte Frauen gar nicht erst trauen, sich auf eine Assistenzprofessur oder gar auf ein Ordinariat zu bewerben.» Sally Gschwend, Mitglied des Universitätsrates, erklärt sich das unter anderem damit, dass Männer tendenziell «risikofreudiger» seien als Frauen. Frauen müsse man eher ermuntern, Männer eher etwas bremsen.

Einziger Mann in der Runde ist Prof. Dr. Kuno Schedler, Prorektor Forschung und Faculty an der Uni St.Gallen. Man habe das Problem zwar erkannt, sagt er, stehe aber noch am Anfang. Seit 2015 gebe es an der HSG einen Leitfaden für Berufungskommissionen, zudem setze man sich neuerdings dafür ein, «Potenzial zu kaufen und nicht Publikationslisten». «Wir nehmen jede, die qualifiziert ist auf die Shortlist.»

Seit 40 Jahren im Dilemma

Einig ist man sich darin, dass gerade auch informelle Netzwerke für die Karriere wichtig sind. Frauenquoten steht die Runde eher kritisch gegenüber. Für Binswanger wären Quoten, ob in Kommissionen oder bei Dozenten allgemein, eine mögliche Übergangsmassnahme. «Sie haben zumindest den Vorteil, dass man nach qualifizierten Frauen suchen müsste», pflichtet Gschwend bei, fragt sich aber, ob es politisch überhaupt durchführbar wäre.

Freyburg sieht in Quoten und anderen Fördermassnahmen wie Präsentations-Workshops oder Mentorings speziell für Akademikerinnen die Gefahr, dass sie «implizieren, dass Frauen Defizite haben, die mit speziellen Trainings beseitigt werden können» – ein Dilemma, das seit den 70er-Jahren provoziere, entgegnet Binswanger. Sie setzt deshalb auch auf Dekonstruktion: der Männerbünde und unterschwelligen Machtmechanismen. Und auf Mentoringprogramme und Massnahmen für beide Geschlechter, zum Beispiel vier Wochen Vaterschaftszeit.

Die jungen Akademikerinnen der zweiten Podiumsrunde sehen sich ebenfalls in einer stark männlich geprägten Umgebung. Gerade bei ihnen wird deutlich: Schwierig wird es dann, wenn Kinder kommen. «Als junge Mutter und Forscherin bin ich auf gute Rahmenbedingungen angewiesen» sagt Dr. Anna Ebers vom Institut für Wirtschaft und Ökologie. «Habilitieren ohne geregelte Kinderbetreuung ist enorm schwierig.» Auch für Gina Di Maio, Doktorandin SEPS, steht und fällt die Karriere mit der «Flexibilität der Strukturen».

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Von links: Nora Markwalder, Gina Di Maio, Tina Freyburg (Moderation), Anna Ebers und Sué González Hauck

Prof. Dr. Nora Markwalder, Assistenzprofessorin für Strafrecht und Kriminologie, hingegen fühlt sich kaum benachteiligt, betont aber: «Ich kann das nur sagen, weil ich keine Familie habe.» Und Law School-Doktorandin Sué González Hauck ergänzt: Wie man sich als Frau in der Akademikerwelt zurechtfindet, hänge nicht zuletzt auch mit dem Selbstbild zusammen. «Man muss sich fragen: Welchen Rollenbilder will ich entsprechen und welchen nicht?» Dazu passt auch Ebers Strategie: «Je aggressiver der Ton der Männer, desto ernster fühle ich mich genommen.»

Bereichernde Elemente

Eine, die sich definitiv zurechtgefunden hat, ist Dr. Margrith Bigler-Eggenberger. Die Uzwilerin wurde 1974 zur ersten ordentlichen Bundesrichterin gewählt und war eine der ersten Dozentinnen an der HSG. Erst 1990 habe die Schweizerische Hochschulkommission den Begriff Frauenförderung zum Thema gemacht, erklärt sie in ihrem Referat. Allerdings weniger wegen der Forderung nach Gleichberechtigung, sondern aus der «durchaus wichtigen Erkenntnis, dass ‹das weibliche Element ausersehen sei, bereichernde Elemente ins Leben der Forschung› zu tragen». Ausserdem seien Wirtschaft und Wissenschaft damals «auf alle Hochbegabten angewiesen» gewesen.

Dieser Rückgriff sein immer dann nötig, «wenn Begabung Mangelware wird in der Männerwelt», erklärt Bigler-Eggenberger. Seither habe sich vieles verändert. Und auch wieder nicht: «Chancengleichheit für Frauen lässt in vielen Bereichen des Lebens, gerade in Prestige-Berufen, nach wie vor auf sich warten.» Als jüngstes Beispiel nennt sie «die Hetzjagd auf eine Frau» – Marianne Mettler –, «die Verwaltungsratspräsidentin des Spitalverbundes St.Gallen werden sollte» und der, als Frau und Sozialdemokratin, «ganz selbstverständlich Unfähigkeit vorgeworfen wurde, ohne sie wirklich zu kennen».

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Erste Bundesrichterin der Schweiz: Margrith Bigler-Eggenberger

Zum Schluss verweist die ehemalige HSG-Dozentin auf Artikel 8 der Bundesverfassung, auf den man sich durchaus berufen könnte, um gerichtlich gegen Diskriminierung vorzugehen. «Es wäre eine Sensation, wenn es einmal passieren würde, dass es ein Prozess wegen Nichtwahl an einer Hochschule geführt würde.»

Schade, dass die wenigen Männer, die anwesend waren, nicht mehr zu Wort kommen in der anschliessenden Diskussion. Ihre Meinung, etwa zu Vaterschaftszeit oder zur Dynamik in Männerbünden, wäre sicher bereichernd gewesen. Ebenfalls lohnend: eine Diskussion darüber, welchen Impact die angestrebte Frauenförderung an Universitäten auf die Nichtakademikerinnen in aller Welt haben könnte – oder besser: sollte.

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