, 27. April 2016
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«Wir können uns nur selber retten»

Die Bewegung «Nuit debout», sinngemäss «die Aufrechten der Nacht», hält Frankreich seit Wochen in Atem. Ein Augenschein in der Mittelmeer-Metropole Montpellier. von Pascal Mülchi

Bilder: Pascal Mülchi

Place de la Comédie, kurz vor 18 Uhr. Inmitten des populären und speziell an Samstagen sehr belebten Platzes versammeln sich allmählich die Aufrechten der Nacht: die Bewegung Nuit debout hat zur Hauptversammlung unter freiem Himmel geladen. Unweit – sozusagen als sinnbildliche Einladung – steht ein Strassenkünstler einbeinig auf einer Weltkugel und manifestiert seine Standfestigkeit.

Auch die Nuit debout-Bewegung in Montpellier ist standfest: bereits zum dritten Mal, seit dem 9. April in wöchentlichem Abstand, nehmen sich mehrere Hundert Personen den öffentlichen Raum, um ihren Frust und ihre Enttäuschung über François Hollandes Politik auszudrücken, gemeinsam zu debattieren und sich zu organisieren.

La Place de la Répubique: Epizentrum einer Bürgerbewegung

Am 31. März wurde die Platzbesetzerbewegung in Paris lanciert und hat seither in mehr als 50 Städten Fuss gefasst. Täglich kommen neue Städte, immer mehr auch kleinere Dörfer dazu. Nach den landesweiten Grossdemonstrationen gegen die geplante Arbeitsmarktreform an ebendiesem 31. März mit rund einer Million Menschen besetzten mehrere Tausend die Place de la République in Paris, um den Widerstand gegen die Reform und ihre Welt weiterzuführen. Seither ist der historisch geprägte Platz permanent besetzt.

Es ist das Epizentrum einer fast immer friedlichen Bürgerbewegung, welche die geplante Arbeitsmarktreform zum Konvergenzpunkt gemacht und die soziale Unruhe ins Rollen gebracht hat. Und vor allem: Frankreichs Regierung in Atem hält. Am 3. Mai beginnt die Debatte zur geplanten Reform in der Nationalversammlung, am 11. Juni im Senat.

«Loi El Khomri»:
Mitte Februar wurde die von der Arbeitsministerin Myriam El Khomri vorgeschlagene Arbeitsmarktreform bekannt. Streitpunkte sind vor allem die geplante Lockerung der 35-Stunden-Woche, die Aufweichung des Kündigungsschutzes und die Senkung der Entlöhnung für Überstunden. Die Regierung will damit eine höhere Flexibilität für die Arbeitgeber gesetzlich verankern.
Die linken Gewerkschaften Confédération générale du travail (CGT) und Force Ouvrière (FO) monierten, dass die ArbeiterInnen komplett vergessen worden seien und riefen für den 9. März zu ersten Demonstrationen auf. Die Reform wurde später durch den Premierminister Emmanuel Valls angepasst. CGT und FO verlangen aber nach wie vor, dass die Reform ersatzlos gekippt wird.
Eine Online-Petition unter dem Titel «Loi travail: non, merci!» hat seit Bekanntgabe der Reform mehr als eine Million Unterschriften erhalten. Frankreich leidet seit längerem unter einer Arbeitslosigkeit von über zehn Prozent.

Zurück auf die Place de la Comédie in Montpellier. Jean-Christophe, ein Staatsangestellter, ist gekommen, weil «die Reform uns alle betrifft». «Ich bin neugierig, was hier am Entstehen ist», sagt er.

Hassane, ein langjähriger Aktivist mit marokkanischen Wurzeln, ist seit dem 9. März, dem Beginn der Demonstrationen von Gewerkschaften, Studierenden und Schülern gegen die Arbeitsmarktreform, mobilisiert. «Ich hoffe noch immer, dass die Regierung den Vorschlag komplett zurückzieht.» Und Romain, ein junger Vater, meint: «Für mich wäre der Verzicht auf die Reform nur ein Pflästerchen auf ein System, dass wir komplett auswechseln sollten!»

Das Abstimmungsprinzip: Hände heben oder kreuzen

Die meisten Aufrechten – eine Mehrheit ist zwischen 20 und 35 Jahren – haben sich unterdessen auf die tagsüber aufgewärmten Platten des umtriebigen Platzes gesetzt. Ein Animator erklärt den Ablauf und die Organisation der Versammlung: Chefs und feste Strukturen gibt es keine, jeder ist Akteur und zwar freiwillig. Eine Wortmeldung darf nicht länger als zwei Minuten dauern – wer einverstanden ist, hebt die Hände, wer nicht einverstanden ist, kreuzt sie. Findet ein Vorschlag keine allgemeine Zustimmung, wird per Zweidrittelmehrheit abgestimmt.

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Ein Aktivist erzählt, was in den Nachbarsstädten Béziers und Sète läuft. In Béziers trifft man sich seit dem 14. April jeden Abend, um gemeinsam anzupacken. Eine junge Frau ist extra aus Barcelona gekommen, um sich von der Bewegung hier in Montpellier inspirieren zu lassen. Am 15. Mai soll in der katalonischen Hauptstadt erstmals eine Nuit debout stattfinden.

Das Datum ist nicht zufällig gewählt: der Aufruf für ein internationales Aktionswochenende unter dem Slogan GlobalDebout ist angelaufen – es sollen öffentliche Plätze auf der ganzen Welt besetzt werden. In der Schweiz ist bis jetzt einzig in Fribourg eine Aktion geplant.

Michel, ein Jugendlicher mit Rastas, appelliert an Unterstützung: seit dem 17. April haben mehrere Personen aus dem Umfeld der Aufrechten eine ZAD (ursprünglich: zone d’aménagement différé, hier: zone à défendre bzw. zone d’activité démocratique) im Quartier Las Rebes in Montpellier ins Leben gerufen. Dort soll der letzte grüne Fleck des Quartiers überbaut werden. Dagegen wird ohne Gewalt protestiert. «Es ist eine sehr familiäre Atmosphäre. Wir sind in regem Austausch mit der Quartierbevölkerung und unterstützen uns gegenseitig!»

Mehr als zwei Dutzend Personen, von Kulturschaffenden über Arbeitslose bis zu Guerilla-Gärtnern, ergreifen vor der Versammlung das Wort. Die Wortmeldungen sind inhaltlich sehr verschieden, gemeinsam ist ihnen die soziale (Protest-)Dimension. Ein politisches Ziel ist bis jetzt nur schwer auszumachen, meint ein älterer Herr, während ein anderer festhält: «Die Bewegung hier in Montpellier ist noch zerbrechlich und prekär. Es ist wichtig, dass wir uns in Richtung einer sozialen Bewegung organisieren, unsere Kämpfe zusammenführen und in die Quartiere tragen.»

Soll die freie Meinungsäusserung für alle gelten, auch für Faschisten?

Ein kühler Wind zieht gegen 20 Uhr über den Platz, einige Regentropfen fallen. «Bon, beeilen wir uns», meint der Animator. Jetzt wird über die Wortmeldungen, die konkrete Vorschläge beinhalteten, abgestimmt. Die Frage, ob die Vollversammlungen künftig auch dezentral stattfinden sollen, wird auf die nächste Versammlung verschoben.

Uneinig ist sich das Plenum nur in einer Frage: soll die freie Meinungsäusserung an den Versammlungen uneingeschränkt für alle gelten, auch für Faschisten? Eine knappe Zweidrittelmehrheit sagt Ja und folgt damit dem Pariser Beispiel.

Die Hauptversammlung geht nun in die Kommissionsarbeit über. Nachdem die verschiedenen Arbeitsgruppen (Logistik, Kommunikation, Aktionen, Konvergenz der Kämpfe, partizipative Demokratie, populäre Erziehung, Ökologie und andere) vorgestellt werden, vertiefen sich die rund 150 übriggebliebenen Aufrechten in die diversen Gruppendiskussionen. Einzelne gehen direkt zur Volksküche, sitzen in kleinen Gruppen herum, plaudern, trinken, essen oder beginnen zu musizieren.

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Die Szenerie wird immer unübersichtlicher und wird es für den Rest der Nacht auch bleiben. Sie reflektiert aber gleichzeitig den spontanen, vielfältigen und bunten Charakter der Bewegung.

Die Debatten gehen jetzt erst richtig los. So wird in der Gruppe «Aktionen» eifrig diskutiert, ob sich am 28. April, dem nächsten nationalen Aktionstag gegen die Arbeitsmarktreform, die Bewegung Nuit debout – entgegen der gewerkschaftlichen Tradition – an die Spitze der Demonstration stellen und eine offensive Rolle einnehmen soll. Im Kreis der Ökologie-Kommission wird diskutiert, wie man sich in Montpellier mit lokalen Nahrungsmitteln versorgen kann.

Eine Kommission, die sich mit der Arbeitsmarktreform an sich auseinandersetzt, gibt es nicht. Nur auf einem Flyer am Infostand findet sich eine Synthese zum Streitobjekt. Das zeigt: Nuit debout in Montpellier ist eher ein loses Sammelbecken von Ideen, Visionen und Utopien für die Schaffung einer neuen Gesellschaft als ein konkreter Thinkthank zur Arbeitsmarktreform. Jean-Christophe drückt es so aus: «Wir können uns nur selber retten!»

Pascal Mülchi, 1985, ist u.a. freier Journalist und passionierter Gärtner in Südfrankreich. Infos: pascoum.net.

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