, 16. November 2015
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Zeigen, was wir gelernt haben

Die Anschläge von Paris machen nicht nur betroffen, sondern auch wütend. Elina Grünert, 18, hat ihrem Ärger in einem offenen Brief Luft gemacht.

Die Welt ist im Umbruch. Die Flüchtlingsströme reissen nicht ab, sie werden stärker, wie auch der Konflikt in Teilen Nordafrikas. Bis jetzt war uns das eigentlich egal. Es tut einem Leid, aber es ist viel zu weit weg. «Die dort unten mit dem Islam, die sind sowieso etwas anderes», denken viele. Doch seit einiger Zeit spüren nun auch die Menschen im Elfenbeinpalast «Westliches Europa» die Folgen des Terrors in Nordafrika. Menschen flüchten, und es werden mehr. Die ankommenden Flüchtlinge stärken das Bewusstsein für die realen Konflikte im Nahen Osten.

Anfang Jahr erfolgte der Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo». Er löste eine riesige Solidaritätswelle mit dem Kampfspruch «Je suis Charlie» aus. Es wurde aber auch kritisch diskutiert, wie weit Satire gehen darf. Ist es erlaubt eine Figur zu karikieren, die für Millionen Menschen mehr als heilig ist? Eine einhellige Antwort wurde auf diese Frage nicht gefunden, aber eines war allen klar: Aufgrund einer Zeichnung darf nicht getötet werden. Eigentlich darf sowieso nicht getötet werden, aber das ist ein anderes Thema.

Jetzt, fast ein Jahr später, erfolgte ein weiterer Anschlag in Paris. An mehreren Schauplätzen schossen Menschen wahllos auf andere Menschen und jagten sich danach feige in die Luft. Die Opfer waren weder christliche Fundamentalisten noch Karikaturisten. Sie waren einfach normale Menschen, Leute wie du und ich. Während die IS Freudentänze macht, hält die westliche Welt den Atem an.

«Den Atem anhalten», das hört man oft. Aber in diesen Tagen gibt es keine treffendere Wortwendung, denn man fühlt sich ohnmächtig. Paris ist vier Stunden entfernt von Zürich. Vier Stunden. Paris ist nicht irgendeine syrische Stadt. Sie liegt sozusagen direkt neben uns. Das macht ohnmächtig.

Ich ändere mein Profilbild auf Whats-App zum Friedenszeichen mit dem Eiffelturm, den Status ändere ich zu «Paix – سلام»; Salam, das arabische Wort für Frieden. Ich fühle mich kein Stück besser. Solidarität bekunden, ja, aber was nützt das? Welche Probleme werden damit gelöst? Genau, keine. Die einschlägigen Medien betrauern die Opfer, fordern zur Solidarität auf – und auf der nächsten Seite diskutieren sie das neue Album von Justin Bieber.

Die Gefühle, die ein solches Attentat hinterlassen, sind primär Ohnmacht, Trauer, Unverständnis. Doch irgendwann dominiert die Wut. Die internationale Gemeinschaft hat auf ganzer Linie versagt. Das Traurige dabei ist, dass das nicht einfach eine ahnungslose 18-Jährige wie ich sagt, sondern eben auch unzählige Experten, die sich ihr Leben lang mit Krieg und Frieden beschäftigen.

Die grossen Staaten der Welt sind unfähig eine Kooperation einzugehen und so den Islamistischen Staat zu bremsen. Der Nordafrikaexperte und Journalist Alfred Hackensberger sprach vor etwa einem halben Jahr bei einer Lesung in St.Gallen über die Situation rund um den IS. Dabei sagte er, dass dieser schon längst hätte gestoppt werden können, würde man es richtig machen. So etwas im Jahr 2015, in der fortschrittlichen Moderne, zu hören, macht mich wütend und enttäuscht. Die Regierungen bekunden nach den Anschlägen ihr Mitleid und bieten Hilfe an. Aber ändert sich nachher auch wirklich was?

Im Gegensatz zu den Armeen der USA, von China oder Russland umfasst der IS nicht viele Männer. Er hat auch keine Öffentlichkeit im Hintergrund, welche die Organisation unterstützt. Auch die meisten Staaten haben sich gegen die Brutalität der Terrororganisation ausgesprochen. Und trotzdem hat sie immer genügend Waffen, um Menschen wie du und ich zu töten. Ist man heute tatsächlich nicht imstande, Waffenlieferungen an solche Gruppierungen zu verhindern?

Dieses Attentat ist ein Weckruf an die Menschen auf der ganzen Welt. Sie sollen ihre Regierungen zum Handeln auffordern. Es ist auch eine direkte Warnung an die grossen Staatschefs. Die Anschlagsserie auf Paris eröffnet eine neue Dimension der Grausamkeit. Anstatt in eine ohnmächtige Starre zu verfallen, sollten wir die Chance nutzen und zeigen, dass wir aus früheren Gräueltaten in der Menschheitsgeschichte gelernt haben.

We want and we will live in freedom. Nous voulons et nous allons vivre dans liberté.

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