, 19. Februar 2016
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Zwischen Absolutem und Kahlschlag

2012 wäre Dieter Leisegang 70 Jahre alt geworden. Daniel Fuchs begibt sich auf Spurensuche nach einem Dichter, dem, so scheint es, der Name zum Programm wurde: Leise, diskret ging er durch sein Leben, 31 Jahre nur. Eine Lesung im Kult-Bau erinnert an ihn.

Rufen wir das Lexikon auf, so finden wir zu Dieter Leisegang folgenden Eintrag:

«Leisegang (*25. November 1942 in Wiesbaden) war ein deutscher Autor, Philosoph und Übersetzer. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie u.a. bei Adorno und Julius Jakob Schaaf. 1963 schwere Lungenerkrankung. 1968-1970 Lehrbeauftragter für Ästhetik an der Werkkunstschule für Gestaltung Offenbach; bis 1971 auch Dozent für Text und Rhetorik an der Fachschule für Industriewerbung und Absatzförderung in Kassel. 1969 Promotion mit der Arbeit Die drei Potenzen der Relation. 1971-1973 Philosophische Analysen der Werke von Franz Kafka und Karl May. Intensive Auseinandersetzung mit Grundlagenfragen des Grafikdesigns. 1972 Gastdozentur an der University of Witwatersrand in Johannesburg, Südafrika. 1972/73 Seminar Philosophische Aspekte der Literatur in Frankfurt. 21. März 1973 Freitod.»

Suchen wir im Netz nach Bildern, so finden wir wenige. Das Wenige vermittelt uns eine Variante eines «Portraits des Künstlers als junger Mann». Leisegang, fast immer in Anzug, Hemd und Kravatte, das Haar streng linksgescheitelt, mit runder Brille und der obligaten Zigarette.

Dichtung und Philosophie

Dem Ganzen haftet etwas Strenges, fast klischeehaft eine Aura des Philosophischen an. Der Dichter, der sich hinter diesem Bild verbirgt, bleibt verborgen. Es ist kaum möglich, Dieter Leisegang als Zeitgenossen der Literatur um 1968 zu begreifen. Er setzte bis zum Ende auf Innerlichkeit, versteckte sich hinter einer Maske des Bürgerlichen und blieb – bis heute – ein Dichter ohne Resonanzraum.

Kahlschlag I

Vor meinem Fenster fallen
Die letzten
Paar Bäume

(Das hat Vorteile, sicher
Wegen der
Weite des Blicks)

Die Stirn an der Scheibe
Fällt es mir
Wieder ein: Ich wollte

Förster werden

1964 veröffentlicht Leisegang nach zwei Privatdrucken seinen ersten, schmalen Gedichtband Brüche. Bezeichnenderweise werden seine folgenden Bände auch einfachste Titel tragen: Überschreitungen, Interieurs. Der engen Bindung an seinen Freund und Verleger Horst Heiderhoff wird er zeitlebens treu bleiben. Mit ihm begründet er die Reihe Das neueste Gedicht, in der auch seine Übersetzungen von W.H. Audens The Common Life (Das gemeinsame Leben), The Cave of Making (Die Höhle des Schaffens) und der Moment Fugue (Moment Fuge) von Hart Crane erscheinen.

«Ein geschlossenes philosophisches Werk»

Heiderhoff publiziert in der Folge alle seine Gedichtebände, Aphorismen und Essays, darunter seine Schrift Dimension und Totalität, eine Weiterführung aus seiner Dissertation Drei Potenzen der Relation. In seinem Entwurf einer Philosophie der Beziehung hinterlässt er, nach Julius Schaaf, «ein geschlossenes philosophisches Werk, in welchem sich profunde historische Kenntnisse der gesamten Philosophiegeschichte mit einer fast bestürzenden Kraft auf höchstem Reflexions- und Argumentationsniveau bruchlos vereinigen.»

«Die Kunst interpretiert die Welt nicht und kann sie auch nicht verändern. Sie ist für manche allenfalls eine Art und Weise, die Welt bzw. sich selbst zu ertragen.»

Bestürzend ist auch die Kraft der Verknappung, der Engführungen in seinen Gedichten: Im begleitenden Nachwort des Gedichtbandes Interieurs (1966), der erstmals die Arbeiten Leisegang der Jahre 1959-1966 versammelt, wird die Sparsamkeit der Ausdehnung und der Kunstverstand gelobt, die Gedichte zu kleinen, schwebenden Gebilden zu gestalten. Im Veröffentlichten heisst das: 35 Gedichte in 8 Jahren.

Am Ende wird das dichterische Werk acht schmale Bände umfassen, davon zwei Privatdrucke. Die Auflagenzahl schwankt zwischen 180 und 1500 Exemplaren. Mit Vorliebe liess sich Leisegang seine Bändchen von seinem Bruder Joachim (Jolei) illustrieren.

Lücken im Publikum

Einige dieser Trouvaillen werden noch bis in die 80er-Jahre lieferbar bleiben, vor allem posthum Erschienenes. Eine Wegmarke setzte Karl Corino 1980 mit der bei Suhrkamp erschienenen Publikation Lauter letzte Worte, einem Band, der Gedichte und Miniaturen aus dem gesamten dichterischen Schaffen Leisegangs versammelt. 1986 folgte eine weitere Publikation von teils unveröffentlichten Gedichten, herausgegeben von Horst Heiderhoff und Joachim Leisegang. Auch diese Ausgaben, wie die gesamten Erstausgaben sind heute längst vergriffen, die Spuren verödet.

Höchste Zeit also, nach dreissig Jahren Stille, das solitäre Werk Dieter Leisegangs wieder wachzurufen.

Dieter Leisegang_Portrait_01

Im Schatten der Gruppe 47: Claire Plassard, Daniel Fuchs, Clemens Umbricht und Florian Vetsch präsentieren Inge Müller, Dieter Leisegang, Rolf Haufs & Rolf Dieter Brinkmann: 23. Februar, 20 Uhr, Noisma im Kult-Bau, St.Gallen

 

 

 

 

 

 

 

 

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