, 18. März 2024
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100 Jahre Palace: Versinken im Sessel

Zum runden Hausgeburtstag laufen im Palace endlich wieder einmal ein paar Filme, acht um genau zu sein. Vom Weltklassiker bis zum Kleinstadtknüller ist alles dabei, samt Wiener Soirée.

Sara Spirig, 1996, ist Fotografin aus St. Gallen. Für den Palace-Schwerpunkt im Märzheft hat sie das Haus bei Tag und Nacht erkundet und Momentaufnahmen gemacht. Die übrigen Bilder sind aus dem Palace-Fundus, dem Staatsarchiv, dem Sadtarchiv und von der Baudokumentation Stadt St. Gallen.

Im alten Palace-Orchestergraben findet man kleine Bleistiftzeichnungen auf der Betonwand: eine mächtige Brücke zwischen zwei Bergen über einem Flusslauf, eine Freiluftbühne samt Band und Dirigent, ein Mann mit Hut, übergrosser Fliege und Jazz Drum. Sie wurden von den Musiker:innen während ihrer Pausen gezeichnet, denn als das Palace 1924 eröffnet wurde, war noch Stummfilmzeit und die Musik wurde live beigesteuert. Doch bereits wenige Jahre später, 1930, zeigte der Filmpalast am Blumenbergplatz seinen ersten Tonfilm.

Heute sind im Palace nur noch zu besonderen Gelegenheiten Filme zu sehen, was aber mehr mit der Ausrichtung des Kulturlokals und weniger mit dem ominösen Filmvorführverbot zu tun hat (mehr dazu auf Seite 24). Eine solche besondere Gelegenheit ist natürlich das 100-Jahr-Jubiläum im März. Im Rahmen dieses mehrtägigen Fests zeigt das Palace acht Filme aus verschiedenen Epochen – vom Weltklassiker bis zum Kleinstadtknüller, darunter auch Werke von Ostschweizer Filmschaffenden.

Das Cinema Palace am Blumenbergplatz wurde am 25. März 1924 feierlich eröffnet. Zum 100-Jahr-Jubiläum des ehemaligen Filmpalasts findet vom 20. bis 24. März das «100vor100»-Festival statt. Es dauert 100 Stunden und hält viele musikalische und cineastische, aber auch allerhand andere Überraschungen parat. Auch für die Nachtstunden.

Das komplette Programm mit allen Veranstaltungen (Konzerte, Filme, Soundwalks, Führungen, Lesungen, Erfreuliche Universität, Figurentheater, Kinderdisco etc.) samt Uhrzeiten findet sich auf palace.sg.

Rummelplatz des Lebens

Zu den Highlights gehört Das Karussell im Prater (Englisch: Merry-Go-Round). Mit diesem Stummfilm aus dem Jahr 1923 wurde das Cinema Palace einst feierlich eröffnet. Er war äusserst erfolgreich, obwohl die Produktion mit einigem Gezänk einherging: Die Chefs der Universal-Filmstudios gewährten dem Regisseur und Drehbuchautor Erich von Stroheim nicht die gewünschten finanziellen und personellen Freiheiten, schliesslich wurde ihm der Film sogar entzogen und von Regisseur Rupert Julian fertiggestellt – mit diversen Änderungen im Drehbuch.

Die Geschichte beginnt vor dem Ersten Weltkrieg und handelt von der Drehorgelspielerin Agnes Urban, ihrem Vater Sylvester, deren gemeinsamem Chef, dem Schausteller Huber, und dem Grafen Franz Maximilian von Hohenegg. Letzterer ist ein notorischer Schürzenjäger, aber eigentlich der Gräfin Gisela von Steinbruck versprochen. Als er eines Tages im Prater der schönen Agnes begegnet, die ihrerseits unter dem sadistischen Huber leidet, gibt er sich im Flirt als normalbürgerlicher Geschäftsmann aus und das Drama nimmt seinen Lauf…

Dieser turbulente Stummfilm am letzten Abend eröffnet die mittlerweile dritte «Wiener Soirée» im Palace und wird ebenfalls live vertont. Die erste fand vor 100 Jahren im Rahmen der Eröffnung des Cinema Palace statt, wo auch die Solotänzerin Hedy Pfundmayr von der Wiener Staatsoper aufgetreten ist. Das zweite Mal zur «Wiener Soirée» lud das Palace 2006 anlässlich der Wiedereröffnung als Konzertlokal, auch damals waren Musiker:innen und Freund:innen aus Wien zu Gast.

Laufen statt rauchen

Schmäh hat aber auch die Ostschweiz zu bieten. Diesbezüglich zu empfehlen ist das Fussgänger-Roadmovie Hans im Glück (2003) des 2014 verstorbenen Filmemachers Peter Liechti, das damals im Palace Premiere feiern durfte: eine charmante Abrechnung mit der Heimat, eine launige Unter- und Heimsuchung.

Liechti macht sich auf, um Nichtraucher zu werden. Zu Fuss von seinem Wohnort Zürich zurück in seinen Geburtsort St.Gallen, wo er einst angefangen hat mit dem Rauchen. Er will die Strecke so lange abschreiten, bis er nicht mehr süchtig ist – und gabelt auf seinem Weg so manche Erkenntnisse, Bilder und Erinnerungen auf. Mit dem Rauchen will er etwas Vertrautes aufgeben, das ihm Sicherheit und Identität gibt. Doch er kann einfach nicht loslassen. Und unterscheidet sich damit gar nicht so sehr von seinen vergangenheitsverliebten Landsleuten, die «längst wissen, dass es keinen Osterhasen gibt, aber immer noch nach Eiern suchen wollen und deshalb so tun, als hätte der Hase sie versteckt».

Das Filmprogramm:

21: März: The Last Picture Show, 9:30 Uhr; Auf- und Abbruch in St.Güllen, 16:30 Uhr.

22. März: Mulholland Drive, 3:15 Uhr; Other Music Documentary, 6 Uhr; Auch Ein Esel trägt schwer, 9 Uhr.

24: März: Hans im Glück, 9 Uhr; Vienna Calling, 14:30 Uhr; Das Karussell im Prater, 18:15 Uhr.

Blockbusterisierung der Innenstadt

Apropos Vergangenheit: Das Palace-Gebäude ist auch ein Zeitzeuge urbaner und kultureller Umwälzungen, von der Pionier- und Blütezeit der Lichtspielhäuser über den Verkehrsausbau bis hin zur Blockbusterisierung der Innenstädte, deren farbige Flecken längst Stadtlounges, Geschäftshäusern und Modeketten Platz machen mussten. Gegen diesen «City-Druck» allerorts und die damit einhergehende Verdrängung von günstigem Wohnraum und subkulturellen Nischen wurde über die Jahrzehnte immer wieder protestiert, auch in St.Gallen.

Das Palace als heutiges Konzertlokal ist ein Kind dieser (kultur-)politischen Regungen. Jan Buchholz und Thomas Koller arbeiten das in ihrem Film Auf- und Abbruch in St.Güllen sehenswert auf. Mit ihrem kultigen Streifen setzten sie 2007 legendären St.Galler Hütten und Orten wie dem Rümpeltum, der Nelkenstrasse oder der Frohegg und anderen wusligen Liegenschaften rund ums Bleicheli ein Denkmal. Und den Leuten, die sich für diese Häuser und Freiräume eingesetzt haben. Öffentlich gezeigt wurde er zuletzt am Parkplatzfest 2017 – höchste Zeit also.

Als Les Reines Prochaines zum zweiten Mal an der Wassergasse spielten, damals, als Pipilotti Rist noch Teil der aufmüpfigen Band war, sind unglaubliche 300 Leute gekommen, erzählt Chrigel Schläpfer im Film. Rist wusste, dass das Haus eingangs zum Bleicheli-Quartier dem Abbruch geweiht war und rief ins Publikum: Seid ihr alle auch da, wenn dann die Bagger kommen? Einige Jahre später legte sie der Raiffeisenbank den Roten Teppich aus und begrub damit das ehemalige Handwerksquartier endgültig. Tja, Aufwertung für sie, Verdrängung für die anderen.

Doch zurück in die plüschigen Palace-Sessel. Nebst den genannten gibt es noch weitere feine Filme, etwa den Dokfilm Auch ein Esel trägt schwer über den Künstler Hans Krüsi von Andreas Baumberger oder Other Music Documentary, in dem einige Bands vorkommen, die schon live im Palace zu Gast waren. Ideal ausgesucht ist auch der Zeitpunkt für Mulholland Drive nachts um 3:15 Uhr. Weil es die Atmosphäre fast schon verlangt, aber auch, weil dann für einmal eine warme Stube nachts noch geöffnet ist in einer Stadt, die den öffentlichen Raum fast bis in jede Ecke gesäubert hat.

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