, 1. April 2024
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30 Jahre Saiten: Erinnerungen an die Anfänge

Ein Gespräch zwischen Brüdern. von Roman und Adrian Riklin

Adrian (links) und Roman Riklin in der Café Bar Nordbrücke in Zürich. (Bilder: Florian Bachmann)

Adrian: November 1993. Woran denkst du?

Roman: Nebel?

A: Ein Zettel. Ich kam spät nach Hause in der Magnihalde, und da lag dieser Zettel: Ob ich Lust auf ein Treffen hätte, um über das Projekt einer Zeitschrift nachzudenken. Was war zu diesem Zeitpunkt der Beweggrund?

R: Am Anfang ging es um ein Musikheftli. Da es viel zu wenig Proberäume, Auftrittsmöglichkeiten und Berichterstattung für und über Bands in der Region gab, taten sich einige wie Starglow Energy, Loge, Roman Games oder Mumpitz zusammen und gründeten den Verein Pop me Gallus. Daraus entstand unter anderem ein Sampler – und die Idee einer Zeitschrift namens Saiten.

30 Jahre Saiten

Am 1. April 1994 ist das allererste Saiten erschienen. Das feiern wir in unserem Aprilheft mit einem Gespräch der Gründerbrüder Roman und Adrian Riklin samt O-Tönen einiger Weggefährt:innen, einer Presseschau aus dem April ’94 und einer tiefen Verbeugung vor den 90er-Jahren – Foto-Lovestory!

A: Schon in der ersten Ausgabe wurde aber auch über Theater, Film und Literatur berichtet.

R: Weil eben auch andere Sparten der alternativen Kultur in den etablierten Medien nur marginal vorkamen. Da fragte ich mich: Wieso eigentlich kein Kulturmagazin? Leute wie Andreas Müller, die das auch schon probiert hatten, sagten: Nicht finanzierbar. Schon gar nicht, wenn es eher auf alternative Kultur fokussiert. Wir haben trotzdem einfach losgelegt und zuerst mal auf einen möglichst umfassenden Veranstaltungskalender gesetzt.

A: Das knatternde Faxgerät in eurer Dachwohnung an der Fellenbergstrasse liegt mir noch in den Ohren …

R: Hauptsächlich war es Gögs Andrighetto, der diesen Kalender aufbaute. Zuerst suchten wir alle möglichen Adressen von Veranstaltern und Kulturlokalen in der Region, schrieben sie an, telefonierten und mussten Bittibätti machen, dass sie ihre Daten faxen, um diese dann aus Beigen von Faxzetteln in einen alten Atari-Computer zu tippen. Viele haben immer wieder vergessen, uns rechtzeitig ihre Daten zu schicken. Aber wir sagten: Der Kern von Saiten muss ein guter Veranstaltungskalender sein, den nur wir bieten. So was nur für die Musikszene zu machen, wäre verlorene Energie gewesen.

 

Roman [Riklin] fragte mich an, ob ich den Veranstaltungskalender in seinem neuen Heftli übernehmen würde. Und natürlich müsse es der beste Veranstaltungskalender der ganzen Region werden. (schluck …) Da ich gerne in der Nähe von Roman war (und immer noch bin), sagte ich zu. Internet war noch in den Kinderschuhen, also legte ich mir ein Telefon-Fax-Gerät zu, das dann zu jeder Tages- und Nachtzeit klingelte und meine junge Familie schön auf Trab hielt mit Gebimmel und meterlangem Faxpapier. Da niemand die neue Zeitschrift Saiten kannte, musste ich allen Veranstalter:innen hinterhertelefonieren und sie überzeugen, uns ihre Veranstaltungen mitzuteilen. War gar nicht so einfach wie gedacht, musste zum Teil richtig mit Nachdruck ran, um die Infos zu erhalten. Der Aufwand hat sich aber gelohnt: Saiten hat den besten Veranstaltungskalender bekommen und ich darf immer noch für Roman arbeiten – mittlerweile sogar bezahlt 😀 Hätte ich damals nicht zugesagt und ihm geholfen, mein Leben sähe bestimmt komplett anders aus. An dieser Stelle: DANKE ROMAN, DASS ICH EIN TEIL IN DEINEM LEBEN SEIN DARF! (Gögs Andrighetto, 1971, ist Tontechniker)

 

A: Trotzdem, das Gründerteam kam fast nur aus der Rock- und Popszene: Gögs von Starglow Energy, Thomas Straumann von Gentle Rebels, Silvan Lassauer von S.A.S. Project, du von Mumpitz …

R: Und nicht zu vergessen: Jürgen Wössner von Ellington, unser Soundmischer Johannes Widmer, Michaela Silvestri vom Openair-Büro und Rubel U. Vetsch mit seiner Backstage- und Plakatierfirma – der einzige aus der Gründungszeit übrigens, der bis heute für Saiten arbeitet.

A: Eine ziemlich männerlastige Geschichte …

R: Hat das nicht auch mit der damaligen Zeit zu tun? Und speziell mit der Musikszene? Da ist es ja bis heute leider nicht viel besser geworden. Die Sängerin Gaby Krapf, die irgendwann ab 1995 für einen Kleinstlohn die Administration im Saiten-Büro machte, war die erste Frau im engeren Team.

 

Das erste Saiten-Sekretariat befand sich in einer klitzekleinen Dachkammer, direkt neben Romans Wohnung. Ab und an schaute seine kleine Tochter vorbei, es war sehr nett und familiär. Dort habe ich also irgendwie «Büro gemacht» und versucht, den Leuten per Telefon Inserate aufzuschwatzen. Was mir schon damals ganz und gar nicht leicht viel. Ich denke, Roman hat im Hintergrund ein paar grosse Fische an Land gezogen, sonst wäre das Heft wohl zu Grunde gegangen. (Gabriela Krapf, 1973, ist Musikerin)

 

A: Interessant finde ich: Fast alle, die am Anfang dabei waren, hatten einen unakademischen Zugang. Waren Anpacker.

R: Und sie behaupten sich bis heute in ihrer Selbständigkeit. Ich denke, das ist kein Zufall.

A: Wie kam es überhaupt zur ersten Ausgabe?

R: Wir hatten null Startkapital. Thomas Straumann und bald darauf Giuseppe Gracia haben fleissig Inserate verkauft. Und gleichzeitig bauten wir recht schnell einen Stamm von über 2000 Abonnent:innen auf.

A: 18 Franken – so wenig kostete am Anfang ein Jahresabo!

R: Die Idee war, die Leute anzufixen – und den Preis allmählich zu erhöhen. Aber natürlich reichte das lange nicht, um Honorare zu zahlen. Oder nur ganz kleine Aufwandentschädigungen, auch für Fotografen wie Leo Boesinger oder Can Asan. Ich verdiente mein Geld unter anderem als Musicaldarsteller bei Space Dream. Das hat mir zwar nicht wirklich Spass gemacht, aber immerhin mein Überleben gesichert.

A: Mit dem Geld aus dem kommerziellen Unterhaltungsbusiness hast du Saiten quasi quersubventioniert …

R: Das ist ja die Ironie der Geschichte! Saiten gäbe es nicht, wenn ich ab 1995 nicht Abend für Abend in Baden auf der Musicalbühne gestanden wäre – und damit genau das tat, was viele, die sich ein solches Heft wünschten, so hassten!

A: Tagsüber im Saitenbüro kettenrauchend telefonieren und sich abends auf der Bühne die Kehle heiser singen.

R: Ja, im Rückblick betrachtet war der persönliche Preis hoch – auf der Ebene der Beziehung, unserer jungen Familie und der psychischen Gesundheit. Ich war ja erst 22, ohne Ausbildung, lebte von der Hand in den Mund, wir hatten ein zweijähriges Kind – und mit Saiten hatte ich eine Einzelfirma, für die ich die alleinige finanzielle Verantwortung trug. Ende 1994 hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Besonders belastend waren hohe offene Rechnungen, die wir nicht zahlen konnten, nicht zuletzt wegen teils monatelanger Verzögerungen der Zahlungseingänge von Inserent:innen. Wir konnten monatelang keine Druckkosten zahlen!

A: Ein Wunder, das Saiten nicht schon frühzeitig begraben werden musste.

 

Es waren für mich schöne und prägende sieben Jahre, in denen ich für Saiten fotografiert habe. Einer meiner speziellsten Aufträge waren die Bilder zur Ausgabe über die Nachtclubs in St. Gallen, ich habe mich bei den Etablissements jeweils angemeldet und gefragt, ob es möglich ist, da zu fotografieren, was bei keinem der Clubs ein Problem war – und dann habe ich eine Woche lang fast jeden Abend in diesen Läden verbracht. Da die Tänzerinnen wussten, dass ich kein normaler Kunde war, konnte ich mich sehr frei bewegen und ganz interessante Gespräche mit den Frauen führen, über die Beweggründe so einen Job zu machen und die Verhältnisse bei ihnen zuhause. Darüber hinaus kam ich so auch an sehr schöne und aussagekräftige Bilder. (Leo Boesinger, 1969, ist selbständiger Fotograf in St.Gallen)

 

R: Das Vertrauen, das uns die Druckerei Niedermann entgegenbrachte, ist schon bemerkenswert: Nicht nur, dass sie das finanzielle Risiko einging. Jürgen Wössner, der bei Niedermann seine Typografenlehre machte, konnte dort auch einen Teil seiner Arbeitszeit als Saiten-Grafiker nutzen. Darum habe ich mich, als ich schon lange nicht mehr am Heft beteiligt war, dafür eingesetzt, dass Saiten bei dieser Druckerei bleibt. Ohne die Druckerei Niedermann gäbe es Saiten nicht! Und wohl auch nicht ohne den damaligen Rat unseres Bruders Mark.

A: Was hat er dir geraten?

R: Nach einem langen Krisengespräch machte er mir klar: «Schau, was ihr geschaffen habt, ist sehr wertvoll. Jetzt müssen wir eine Lösung finden, damit die Arbeitsbelastung kleiner wird – und die Einnahmen möglichst stabil bleiben.» Also: Weiter machen, aber das Ganze bis auf weiteres auf einen einzigen Artikel und den Ausbau des Veranstaltungskalenders reduzieren. Und die Energie, die dadurch freigesetzt wird, in die Akquise von weiteren Inseraten und bessere Strukturen investieren.

A: Dieser Rat war Gold wert.

R: Ja, sicher. Wobei daraufhin als erstes die schlechteste Saiten-Nummer ever erschien.

A: Die mit dem sexistischen Bild auf dem Cover?

R: Ja, genau, die mit der Reportage aus dem St. Galler Redlight-District! Ich schämte mich in Grund und Boden. Das war der Moment, wo du dann richtig eingestiegen bist und das Konzept mit den Titelthemen weiterentwickelt und ausgebaut hast.

A: Hast du dich später nie gefragt, ob sich dein Einsatz gelohnt hat?

R: Aus der Perspektive meiner Berliner Zeit konnte ich den riesigen Aufwand, den wir in den Anfangsjahren betrieben hatten, rückblickend nicht nachvollziehen.

A: Wie sah das Christine Enz, deine damalige Partnerin?

R: Sie hat das alles als Unterstützerin und Mitdenkerin im Hintergrund von Anfang an mitermöglicht und war sehr wichtig für mich bei all den Diskussionen in unserer kleinen Küche. Sie hat die Idee immer mitgetragen. Bis zum Schluss, als alles zu viel wurde und ich aufgab: Saiten, Mumpitz, meine Radiosendung. Es gab nur eine Lösung.

A: Weggehen …

R: Und mit all dem aufhören. Wirklich versöhnt mit dieser Zeit habe ich mich erst, nachdem du ab etwa 1998 offiziell das Steuer übernahmst. Bis dahin warst du ja eher in einer informellen Rolle. Das hat mich versöhnt: Zu sehen, wie du in dieser Aufgabe aufgehst – und später auch Christine acht Jahre im Saitenbüro arbeitete.

A: Und doch ist es verwunderlich, dass sich Saiten so entwickeln konnte.

Adrian Riklin, 1967, ist Redaktor bei der WOZ. Roman Riklin, 1971, ist Storyteller und Songwriter.

R: Wichtig war, dass von an Anfang an alle Beteiligten an eine übergeordnete Idee glaubten: daran, dass sich durch qualitative und quantitative Kulturinformation die Situation der Kulturschaffenden verbessern und die Kultur selbst entwickeln kann. Das hat uns inspiriert. Heute denke ich: Wenn es von Anfang an kommerziell funktioniert hätte, hätten wir nie eine so breite Unterstützung erfahren. Viele spürten: Da sind Leute am Werk, die machen das aus Leidenschaft und Idealismus. Das war wohl diese inspirierende Kraft, die entsteht, wenn Leute vorausgehen und für eine Idee kämpfen, ohne dabei auf den eigenen Vorteil zu schielen. Das zieht Gleichgesinnte an.

A: Das war auch beim Inserate-Akquirieren spürbar. Ich denke da an Franco Marchesoni vom Restaurant Baratella, der ganz von Anfang an bis heute dabei ist. 343 Ausgaben! Aber natürlich gab es auch Leute, die sagten: Denen geben wir höchstens ein paar Monate.

R: Wobei wir ja in den ersten Ausgaben schon ziemlich pubertäres Zeugs machten.

A: Woran denkst du?

R: Die bösen Hass-Leserbriefe zum Beispiel, die ich zusammen mit Giuseppe Gracia erfunden habe. Publizistisch war das natürlich völlig unsauber, aber das war halt auch so eine Strategie, um Leser:innen zur Solidarität zu verführen.

A: Mir kommt dazu ein fiktives Interview mit einem fiktiven Philosophen in den Sinn, das Giuseppe Gracia und ich schrieben – als satirischen Beitrag zum Titelthema «Heilslehren». Mit der Folge, dass jemand vom Rösslitor verzweifelt im Saitenbüro anrief, weil x Leute das fiktive Buch des fiktiven Philosophen bestellen wollten. Der Witz dabei war: Das Interview wirkte extrem seriös. Über die Pseudoseriosität übten wir eine gewisse Seriosität aus. Natürlich war das eine Gratwanderung; ab einer gewissen Professionalisierung ist das kaum mehr möglich und eher imageschädlich. Ich bin mir aber sicher: Ohne diese spätpubertäre Lust hätte sich Saiten nie so entfalten können.

R: Natürlich, sonst hätte ich das niemals ausgehalten: Monatelang völlig übernächtigt über 100 Prozent dafür zu arbeiten, nachts im Theater und auf den Rockbühnen Geld zu verdienen – und ständig die reale Angst vor dem Privatkonkurs.

A: Warum eigentlich eine Einzelfirma?

R: Es wollte ja niemand sonst Verantwortung übernehmen! Erst ein gutes Jahr nach meinem Ausstieg aus dem operativen Geschäft, als ich bereits in Berlin lebte, wurde der Verein gegründet. Die Monate davor wurde es immer absurder: Ich war in Berlin und haftete für Entscheide, bei denen ich gar nicht mehr involviert war. Mit dem ehemaligen Kinok-Leiter Roger Walch, der als erster Angestellter die verlegerische Hauptverantwortung übernahm und das Magazin geschickt weiterentwickelte, war ich zwar regelmässig in Kontakt. Mitte 1997 aber wurde diese Schere zwischen fehlender Einflussnahme und finanzieller Verantwortung zu gross. Bevor ich wegging, hinterliess ich Saiten eine Liquiditätsreserve. Und dann sah ich aus der Ferne, wie diese Reserve dahinschmolz. Dieses Risiko war mir irgendwann zu gross. So entstand der Verein Saiten.

A: Obwohl du eine GmbH wolltest.

R: Ich hatte Angst, dass ein Verein zu Problemen mit Generationenübergaben führen könnte, wegen Leuten, die nicht rechtzeitig loslassen können. Umso schöner, dass das nie passiert ist. Heute denke ich: Es ist ein Glück, was wir alles erleben und lernen durften! Diese Lehrjahre sind für mich als Kleinunternehmer im Kulturbereich unglaublich wichtig. Aboverwaltung, Buchhaltung, Inserateverkauf, Organisation, strategische Planung, Redigieren … Und vor allem: Mit Menschen zusammenarbeiten, ein Team motivieren. Es war eine Art Super-KV in der Realität, wovon ich bis heute enorm profitiere. Inzwischen bietet Saiten sieben Arbeitsplätze und ist auch ein super Sprungbrett für junge Journalist:innen und Gestalter:innen. Ich sehe das als grosses Privileg und Geschenk: dass wir dafür am Anfang stehen durften.

 

Wir nehmen das nun in die Hand und zeigen «Kultur», zeigen, was hier abgeht. Zeigen auf, wo es klemmt, wer klemmt. Wir zeigen auf, wer die Aktiven sind, und was alles veranstaltet, organisiert wird. Mit einem Businessplan gäbe es Saiten vermutlich schon lange nicht mehr. Wir waren Freunde und wir hatten Freunde, die uns unterstützten. Die Druckerei, in der Jürgen als Schriftsetzer (!!) arbeitete und die das Saiten dann ja auch druckte,  und soviel ich weiss, z.T. länger auf die Zahlung wartete.

Es bleiben mir die Stunden, in denen ich Adressen aufklebte, Bündel von Saiten zuerst bei mir zu Hause für die Post zusammenstellte, die Adressen auf das Magazin klebte und nach Postleitzahlen Pakete in meiner Wohnung schnürte. Kurze Zeit später richteten wir jeweils bei der Dreischiibe eine Verarbeitungsstrasse ein und mit 4 bis 5 Helfer:innen adressierten, bündelten wir die Hefte und gaben diese bei der Post termingerecht ab. Es war alles jeweils ein Riesenstress.

Der Saiten-Groove war nicht nur bei uns, sondern überall, wo ich in der Stadt jeweils Saiten verteilte. Wie auch heute noch, Saiten wird erwartet. Und es gibt immer Gesprächsstoff beim Verteilen in der Stadt, freundlich, freudig oder manchmal auch etwas weniger. (Rubel Vetsch, 1964, macht Promotion und stellt Events auf die Beine)

 

A: Wir hatten aber auch Glück. Glaubst du nicht auch, dass St. Gallen für so etwas wie Saiten eine fast schon ideale Stadt war? Weil es hier eben doch ein recht vielfältiges kulturelles Angebot gab – verglichen zum Beispiel mit deutschen Städten ähnlicher Grösse?

R: Das ist eben das Provinzprivileg. In Berlin gab es den «Tip» und die «Zitty», etablierte Kulturzeitschriften mit langer Tradition. Wären wir dort aufgewachsen, wäre es uns nie in den Sinn gekommen, eine solche Zeitschrift zu gründen: Es hätte die Lücke gar nicht gegeben, in die wir in St. Gallen springen durften. Wir hätten all diese Erfahrungen nicht machen dürfen.

A: Es war also dieses Vakuum, das Saiten zum Klingen brachte. Dieser Widerspruch: Dass es zwar ein relativ breites kulturelles Angebot gab – dieses medial aber kaum einen Niederschlag fand.

R: Und gleichzeitig unsere persönlichen Lebensumstände. Du, der du aus Zürich zurückkamst und dich von hier aus mit Theater- und Gelegenheitsjobs durchschlugst. Und ich, der wohl froh war, anstatt eines Studiums den Versuch zu wagen, den Lebensunterhalt für unsere junge Familie mit Musik und Theater zusammenzukratzen.

A: Woher nahmst du da die Energie, dich auch noch voll in dieses Saiten-Projekt hineinzustürzen?

R: Ich glaube, aus dem Gefühl heraus, dass es um etwas Wichtiges geht. Ich wollte mich unbedingt mit der Realität konfrontieren und mich ausprobieren.

A: Das ging mir ähnlich. Wobei ich in der grössten finanziellen Krise das Glück hatte, ein paar Monate bei unseren Eltern zu wohnen.

R: Und unsere Mutter anerbot sich, Texte zu korrigieren, nachdem ihr unsere Fehler in den gedruckten Saiten irgendwann zu viel geworden waren …

A: Saiten profitierte aber auch von dem, was die 80er-Bewegung erkämpft und vorgebahnt hatte: nicht nur, was Kulturräume wie die Grabenhalle, das Kinok, die Kunsthalle oder die Frauenbibliothek Wyborada betrifft.

R: Josef Felix Müller hat mich deshalb anfänglich hart kritisiert: Der Hinterbau fehle. Dass wir so tun, als würden wir alles erfinden – ohne eine Ahnung davon zu haben, gegen welche Widerstände in den 80ern Kulturräume erkämpft wurden. Das war für mich eine Lehrstunde.

A: Auch ich kam auf die Welt. Ganz wichtig war Sabin Schreiber selig. Sie hat mich subtil auf unsere blinden Flecken aufmerksam gemacht und auch als Ideengeberin und Autorin eine wichtige Rolle gespielt. So entstand unter anderem das Heft zur Frauenbewegung in der Ostschweiz. Die Jahre nach dem Berliner Mauerfall waren ja sowieso sehr speziell, das war uns damals einfach noch nicht wirklich bewusst. Es hat sich extrem viel geöffnet, alternative Räume ebenso wie neoliberale. Für mich war das ein idealer Spielplatz: Die Welt mit all ihren Widersprüchen im Kleinen abzubilden und verschiedene Szenen miteinander in Kontakt zu bringen, hatte in den Jahren vor der Digitalisierung einen besonderen Reiz.

R: Spannend finde ich auch, dass es mit den Generationenübergaben gelungen ist. Von dir zu Kaspar Surber, und weiter. Das hat Saiten jung und frisch behalten.

A: Und umgekehrt von jungen Anfänger:innen wie uns zu älteren Profis: Marcel Elsener war der erste, der von einer grossen Tageszeitung zu Saiten kam. Heute sind nach Peter Surber mit Roman Hertler und David Gadze zwei weitere ehemalige «Tagblatt»-Redaktoren bei Saiten.

R: Das spricht schon auch für die Qualität des heutigen Magazins. Dass wir aus einer Furzidee und ganz viel Naivität etwas aufbauen durften, das später für andere attraktive Arbeitsplätze schafft: Das ist ein mega gutes Gefühl.

A: Auch dass Saiten seine Unabhängigkeit und Offenheit bewahren konnte! Und diese Vernetzung zwischen den Generationen, Milieus und Kulturen weiterhin funktioniert – dass sich das nicht gegenseitig ausschliesst, sondern befruchtet: Da konnten wir vielleicht sogar mithelfen, den Geist in dieser Gegend etwas zu öffnen.

R: Das wäre schön.

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