, 3. Oktober 2019
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Ab auf den Polizeiposten!

Am Donnerstagmorgen wurden Studierende an der Fachhochschule St.Gallen willkürlichen Personenkontrollen unterzogen. Aus triftigen Gründen.

Bilder: Dani Fels

An diesem Donnerstagmorgen stimmt etwas nicht. Als die Studierenden der Fachhochschule St.Gallen in die Zehn-Uhr-Pause wollen, werden sie von mehreren Personen abgefangen. «Guten Morgen!», sagt eine junge Frau zu zwei Studenten und drückt dem kleineren von beiden strahlend etwas in die Hand. «Du bekommst diese Karte, damit kannst du dich frei bewegen.»

Der Grössere sucht verunsichert Blickkontakt. «Für dich habe ich heute leider keine Karte», erklärt die junge Frau kurzangebunden. «Bitte begib dich in den abgesperrten Bereich zwischen den Bäumen dort vorne.» Widerwillig trottet er davon.

Augenblicke später stehen etwa 30 willkürlich ausgewählte Menschen zwischen den Bäumen und Aschenbechern, planlos, umrahmt von rot-weissem Absperrband und ihren plappernden Kommilitoninnen, die Kaffee schlürfend das Sonnenwetter und ihre Bewegungsfreiheit geniessen. Da und dort Stirnrunzeln, man unterhält sich trotzdem. Einige lassen sich einen Kaffee hinter die Absperrung bringen von den «Freien», von denen sich schliesslich eine Handvoll solidarisiert und ebenfalls hinter die Absperrung kommt.

VIP’s oder Aussätzige?

Viele Leute hinter dem Absperrband fühlen sich «komisch», «fremdbestimmt», «ausgeschlossen». Oder «wie very important persons», sagt eine junge Frau lachend. «Aber nur solange es nicht regnet. Dann würde ich nämlich auch unters schützende FHS-Dach wollen!» Eine junge Frau mit Karte fragt, ob ihre Kollegin sich auch wieder frei bewegen dürfe, wenn sie ihre Karte zerreissen und mit ihr teilen würde.

Nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei, Suvi Kandiah löst das Ganze auf. Organisiert wurde die Aktion vom Institut Neue Schweiz (INES) und dem Kollektiv Ostschweiz mit Migrationsvordergrund. Der Hintergrund: das Recht auf Rechte.

Immer noch leben in der Schweiz zehntausende Menschen, die nirgends registriert sind und/oder einen illegalisierten Aufenthaltsstatus haben. Und somit auch kaum medizinische Grundversorgung, keinen Arbeitsschutz und erst recht keine politische Mitsprache (mehr dazu hier). Übersetzt auf die Aktion vor der FHS: Wer keine Karte bekommen hat, ist Sans-Papier und gehört auf den Polizeiposten hinter das Absperrband.

Dass es auch anders geht, zeigen Städte wie New York, San Francisco oder bald Barcelona. Dort gilt das Prinzip der Stadtbürgerschaft – Urban Citizenship. Alle New Yorkerinnen und New Yorker können sich seit 2015 eine sogenannte City-ID ausstellen lassen, die nicht nur von Schulen, Bibliotheken und Privatunternehmen anerkannt wird, sondern auch von der kommunalen Polizei – unabhängig von Aufenthaltsstatus und Herkunft. So kommen alle, zumindest in ihrer Stadt, zu ihren Rechten.

Allgegenwärtig: die Angst vor der Ausschaffung

Die Idee geistert schon lange herum, mittlerweile tut sich auch in der Schweiz einiges. In Zürich, Genf, Basel, Neuenburg und Bern gibt es entsprechende Bestrebungen – seit einiger Zeit auch in St.Gallen.

Die Angst vor der drohenden Ausschaffung sei allgegenwärtig, sagt Hannes Lindenmeyer vom Kollektiv Züri City Card vor der FHS. «Darum nehmen viele Sans-Papiers ihre Rechte nicht wahr, wenn sie zum Beispiel Opfer von Gewalt oder bei der Arbeit ungerecht behandelt werden.» Dieser Zustand sei unhaltbar, darum brauche es die City-Cards.

Mardoché Kabengele, Hannes Lindenmeyer und Suvi Kandiah.

Er sei oft auf der Strasse am Unterschriften sammeln, sagt Lindenmeyer, aber er habe selten so viele positive Rückmeldungen erhalten wie bei der Petition für eine Zürcher City-Card. «In kürzester Zeit sind über 8000 Unterschriften zusammengekommen, selbst die Polizei und die Gesundheitsdienste sagten, sie wären froh um eine City-Card, da es ihre Arbeit um einiges vereinfachen würde.» Momentan beschäftigt sich der Stadtrat mit dem Thema.

In Bern ist man schon einen Schritt weiter: Im Integrationsplan 2018–2021 hat der Gemeinderat die Prüfung einer City-Card und damit die Förderung der Teilhabe aller in Bern wohnhaften Personen unabhängig ihres Aufenthaltsstatus festgehalten. Dabei gehe es nicht nur um das Recht auf Rechte, sondern auch um das Gefühl von Gemeinschaft, um Zugehörigkeit und soziale Rechte, erklärt Mardoché Kabengele von «Friends of INES» vor der FHS.

Schwarzer Humor, Utopien und Deep Diversity

Diesen Samstag ist Kabengele an der «Ersten kanakischen Late Night Show der Schweiz» im Palace St.Gallen zu Gast, wo es unter anderem auch um das Thema City-Cards gehen wird. Und um «schwarzen Humor, Utopien und Deep Diversity», wie er erklärt. Moderiert wird der Abend von Fatima Moumouni und Uğur Gültekin, ihre Gäste sind Stadträtin Maria Pappa, Etrit Hasler, Iman Bragic und Leni Thilagarajah. (Mehr zur Late Night Show hier.)

Zurück zum Pausenplatz. «Fuck the System», nuschelt eine junge Frau, als sie unter dem Absperrband hindurchschlüpft. Zwei andere unterhalten sich angeregt über die Situation von Illegalisierten in der Schweiz, darüber, dass man zwar wisse, dass es sie gibt, sie aber praktisch unsichtbar seien – «und ihre Probleme und Sorgen erst recht». Und sie, die bei einem allfälligen Wolkenbruch Schutz unter dem FHS-Dach hätte suchen wollen, weiss nun, dass dieses symbolisch ist, zum Beispiel für medizinische Versorgung, das Recht auf Bildung, für Arbeitsschutz und generelle Teilhabe.

Viele sind sich einig: Es bräuchte auch in St.Gallen eine City-Card. Ungewiss ist, was die kleine Gruppe von Widerständischen etwas weiter weg vom Geschehen über die Aktion denkt. Sie haben sich geweigert, auf den «Polizeiposten» zu gehen, sind unter dem Radar geflogen und haben sich am Rand verkrochen. Wie es auch die meisten Sans-Papiers tun.

INES Late Night Show:
5. Oktober, 19:30 Uhr, Palace St.Gallen
palace.sg, institutneueschweiz.ch

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