, 16. März 2014
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Alle für alle

Moderne Demokratie muss die ganze Gesellschaft repräsentieren, findet der Verein «Fair Wil» und fordert in seiner Petition ein politisches Mitspracherecht für Jugendliche sowie Migrantinnen und Migranten der Stadt.

Mitreden darf: vorerst nur, wer eingebürgert ist

In der Stadt Wil leben gut 23’500 Personen, der Ausländeranteil liegt um die 30 Prozent, je nach Quelle. Der aktuelle Jugendquotient (Anteil der unter 19-Jährigen im Verhältnis zur erwerbsfähigen ständigen Wohnbevölkerung von 20 bis 64) ist 0,3 gemäss Kantonsstatistik. In Wil ist demnach etwa ein Drittel der Bevölkerung unter 20, ebenso viele gelten als Ausländerin oder Ausländer. Sie alle sind wohl Teil des Stadtbildes, auf der politischen Karte aber unsichtbar.

«Migranten und Jugendliche haben keine politischen Rechte», kritisiert Rahel Diethelm und sammelt deshalb seit knapp einer Woche Unterschriften. Die von ihr mitverfasste Petition des Vereins Fair Wil fordert mehr Mitsprache für die beiden Gruppen und wurde bis Sonntag fast 130 Mal unterschrieben. Ein gelungener Auftakt in ihren Augen. Obwohl erst kürzlich auf die Beine gestellt, sei die Forderung keine Reaktion auf die Abstimmung im Februar, sagt die Fachfrau für internationales Recht und Beziehungen. «Als Verein agieren wir primär auf der zwischenmenschlichen Ebene, nicht auf der politischen.»

Artikel statt Stimmrecht

In Wil werde derzeit die neue Gemeindeverordnung erarbeitet, ergänzt SP-Parlamentarier und Vereinspräsident Arber Bullakaj, deshalb der Zeitpunkt. Der gebürtige Kosovare – buchstäblich über Nacht bekannt geworden, als er im Juli 2013 als erster Mensch aus dem Balkan ins Wiler Stadtparlament gewählt wurde – ist Mitbegründer von Fair Wil. «Förderung der interkulturellen Kommunikation zwischen Menschen aller Altersstufen, Schichten und Länder und damit auch deren Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben», fasst Vorstandskollegin Diethelm den Vereinszweck zusammen.

Bis zum Sommer sind mehrere Infoveranstaltungen, Vorträge und Standaktionen geplant, dann soll die Petition dem Stadtrat überreicht werden. Anders als etwa im Ausserrhodischen, wo auf kommunaler Ebene seit bald 20 Jahren ein Ausländerstimm- und Wahlrecht existiert, fordert sie aber keine Parlamentssitze, sondern einen Partizipationsartikel. Verankert in der Gemeindeordnung, nach dem Vorbild der Stadt St.Gallen.

Kaum Vorstösse in der Kantonshauptstadt

2007 wurde der Passus in St.Gallen nach einem Referendum knapp angenommen, mit unerwarteter Bilanz: Die befürchtete oder erhoffte Vorstoss-Flut bliebt aus. Insgesamt gab es acht Vorstösse, sechs von migrantischer und zwei von jugendlicher Seite, nur einer davon wurde für erheblich erklärt. In seinem Bericht präsentiert der städtische Integrationsbeauftragte Peter Tobler 2011 mehrere Erklärungen, zum Beispiel «langwierige Lern- und Vertrauensprozesse» oder «wachsende Politikverdrossenheit». Diese nehme auch bei den Stimmberechtigten zu, hält er fest. Wichtiger als die Zahl der Vorstösse sei ohnehin das Mitspracherecht an sich.

Papiertiger oder Chance für Wil? «Die Beteiligung hängt von der Umsetzung des Artikels ab», so Diethelm, «aber wir setzen wie St.Gallen auf spezielle Minderheitenvorstösse». Fair Wil wünscht sich vom Stadtrat zudem ein Jugendparlament samt Finanzplan für die Minderjährigen in Wil, unabhängig ihrer Papiere. Abstimmen mit 16 stehe aber nicht zur Debatte.

Einsatz durch Wertschätzung

Ein Jugendstimmrecht kennt bisher einzig der Nachbarkanton Glarus, dort wurde 2007 ein Juso-Vorschlag angenommen. Knapp zwar, aber offenbar im Glauben, dass Demokratie lernbar ist. Ein Vertrauensbeweis für die junge Minderheit – jene Wertschätzung, die auch die berufstätige Minderheit über 18 ohne Schweizer Pass verdient hätte. Deren Vorstösse mögen rar sein, doch wer nur halbwegs einbezogen wird, engagiert sich dementsprechend. Breitwillig räumen Personen ohne Stimmrecht manchmal ein, dass ihre angebliche «Verdrossenheit» nur als Ausrede diene.

Die Politik ist da zurückhaltender. Schwer zu sagen, wo ihre Beweggründe sind, ob Partizipationsartikel ebenfalls nur Alibi oder ernst gemeinte Schritte sind.

Mitsprache beginnt ohnehin nicht in der Politik, weiss auch Fair Wil und setzt deshalb seit der Gründung 2012 auf soziale Netze. Dreh- und Angelpunkt ist das Schreibbüro beim Bahnhof. Dort bietet der Verein jeden Samstag Schreib-Unterstützung in wichtigen Bereichen und ist zugleich Kontakt- und Anlaufstelle für Fragen rund um die Stadt und das Leben in Wil. Getragen wird das Freiwilligenprojekt von aktuell knapp 60 Vereinsmitgliedern, sowie Gönnern und Sponsoren.

Weitere Infos zur Petition: fairwil.ch

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