keine Kommentare
Alles begann mit einem Aufstand
Ein Jahr nach der ersten St.Galler Pride lud letzten Samstag ein queeres Kollektiv zum Cristopher Street Day (CSD) in St.Gallen. Eine Demo, die sich auf die Ursprünge der LGBTQ-Bewegung seit dem Stonewall-Aufstand bezieht.
«Sie haben die Wurzeln unserer Bewegung vergessen.» Robin Eichmann, Stadtratskandidat:in für die Juso, erklärt in der Eröffnungsrede des CSD am vergangenen Samstag in St.Gallen, warum sie heute hier sind. An die hundert Personen versammeln sich auf dem Kornhausplatz, um für queere Rechte zu demonstrieren.
«Zu viele haben sich der bürgerlichen Gesellschaft angepasst», erklärt Eichmann. Die Folge: Die queere Bewegung habe einen Grossteil ihrer Kampfkraft verloren. «Wir müssen uns erinnern, dass wir nur durch eine radikale Befreiung des Patriarchats und des Kapitalismus ein gutes Leben für alle erkämpfen können.»
Cristopher Street Day (CSD), so wurde die Pride anfangs auch in Zürich genannt. Es war lange ein Synonym für die gleiche Veranstaltung, je nach Stadt mit einem anderen Namen. In Wien ist es die Regenbogenparade, in Warschau die Parada Równości (Gleichheitsparade).
An vielen Orten verloren die Veranstaltungen jedoch mit der Zeit den politischen Kampfgeist, was sich unter anderem mit der generellen Öffnung der Gesellschaft gegenüber queeren Personen erklären lässt. Auch in Zürich veränderte sich die Pride über die Jahre und wurde zu einem Festival mit teils umstrittenem Sponsoring: Banken, Versicherungen, Pharmakonzerne und Technologieriesen aus dem Silicon Valley gehören dort inzwischen so selbstverständlich dazu wie auch Parteien aus dem rechts-bürgerlichen Lager.
Zürcher Kritik löste neue CSD-Bewegung aus
2022 wurde dem Verein von Zürich Pride wegen des umstrittenen Mottos «trans:normal» Assimilationspolitik vorgeworfen, es musste abgeändert werden. Im gleichen Jahr wollte der Verein dem Dachverband LOS (Lesbenorganisation Schweiz) keinen Umzugswagen geben, gewinnorientierten Unternehmen aber schon. Nach öffentlicher Kritik krebste der Verein zurück.
Viele wünschten sich eine politischere, linke Pride. Denn: Der Stonewall-Aufstand von 1969 in der Christopher Street in New York (daher der Name CSD), war keine bunte Parade, sondern eine von Schwarzen trans Personen angeführte Rebellion gegen die Polizei. Der Aufstand markierte einen Wendepunkt in der LGBTQ-Bewegung.
In Zürich bildete sich ein alternatives Kollektiv, das sich auf ebendiese Ursprünge besinnen wollte: Eine Bewegung gegen Polizeigewalt und ohne Umzugswagen von Grosskonzernen, die die Veranstaltung als Werbeplattform missbrauchen. Das Kollektiv veranstaltet seither den antikapitalistischen CSD Zürich. 2023 folgte Bern und dieses Jahr nun auch St.Gallen.
Problem Lohnarbeit
Auf dem Kornhausplatz übernimmt Jayna Hauser das Mikrofon. Sie ist Teil des queeren Kunstkollektivs «Vulvadrachen». In ihrer Rede spricht sie über Transphobie im Arbeitsmarkt: Grenzüberschreitende Kommentare und sogar Absagen aufgrund der Transgeschlechtlichkeit sind dort eine Realität. Solche Absagen sind strafbar, doch der Rechtsstreit, der oft vorprogrammiert sei, erschwere es laut Hauser, sich überhaupt darauf einzulassen.
Laut TGNS (Transgender Network Switzerland) beträgt die Arbeitslosenquote bei trans Personen zirka 20 Prozent. Sie ist damit fast fünfmal höher als bei der Schweizer Gesamtbevölkerung. «Das Problem liegt nicht in der Arbeitswelt allein, es muss grösser angegangen werden», fordert Hauser. Sie fordert eine sensiblere Berichterstattung zum Thema Transgeschlechtlichkeit, eine niederschwellige Meldestelle, die Auflösung des amtlichen Geschlechts und Aufklärungskurse an Arbeitsplätzen.
Ergänzung zur St.Gallen Pride
Als Konkurrenz zur St.Gallen Pride sieht sich der CSD St.Gallen nicht. In der vorab versendeten Medienmitteilung schreiben die Veranstaltenden, dass sie «die St.Gallen Pride als wichtigen Teil für die queere Szene in der Ostschweiz» erachten. Die beiden Co-Präsidentinnen der St.Gallen Pride, Elena Schiavo und Andrea Calzavara, sind dann auch am CSD vor Ort. Sie veranstalten die nächste Pride im kommenden Jahr.
Unstimmigkeiten wie in Zürich sind also weniger der Grund zur Gründung des CSD. Vielmehr ist es wohl auch eine Überbrückung. Unterschiede zur St.Gallen Pride im August 2023 gibt es allemal: Sie war grösser und politisch breiter abgestützt. 2500 Menschen nahmen an der Demonstration teil. Es war aber ebenfalls ein Umzug ohne Sponsoringwagen, der Verein finanzierte sich ausschliesslich mit Spenden. Der CSD setzt mit den Reden und der Kampagne auf Instagram jedoch klarere politische Akzente: Antikapitalismus und Intersektionalität werden hochgehalten.
Der Demonstrationszug zieht zum Gallusplatz. Dort hält Maria Binia eine Rede über die langjährige Geschichte der Pathologisierung von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Diese begann im frühen 19. Jahrhundert. In der westlichen Welt verlagerten sich damals diese Themen in den Bereich der medizinischen Wissenschaften.
«Menschen, die nicht den heteronormativen Normen entsprachen, wurden nicht mehr als kriminell, sondern als krank angesehen», erklärt Binia. Erst im Jahr 1990 strich die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel für Krankheiten. Bei Transidentitäten war es sogar erst im Jahr 2019.
«Es sei an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen», fordert Binia. «Gemeinsam können wir eine Welt schaffen, in der Vielfalt nicht nur akzeptiert, sondern zelebriert wird.» Die Menge jubelt. Begleitet von Parolen bewegt sich die Gruppe weiter die Gallusstrasse hinunter. Mit zwei Extraschlaufen endet der Demonstrationszug im Schwarzen Engel, wo in den Abend hineingefeiert wird.