, 25. August 2017
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Allgegenwärtig ist die Angst

Flucht – aber nicht 2017 nach Europa, sondern 1941 von hier weg: Davon handelt «Transit». Katja Langenbach inszeniert den Roman von Anna Seghers in der Halle im St.Galler Lattich.

Bilder: Tine Edel

Die ersten Wortfetzen kommen von weit weg, deutsch, französisch, englisch durcheinander. Ein Schiff sei untergegangen. Langsam kommen die Sprecher näher und wird aus den Fetzen Gewissheit. Die «Montréal», hört man, sei bei der Überfahrt gesunken, mit Flüchtlingen an Bord.

Ein beklemmender Anfang.

Die Geschichte spielt aber nicht 2017, sondern 1941. Und die Flüchtlinge kommen nicht aus Tunesien, Eritrea, Syrien, sondern aus Deutschland und Frankreich. Im Roman «Transit» schildert Anna Seghers die Kriegssituation im besetzten Frankreich und im noch unbesetzten Süden. «Ihre» Flüchtlinge sind Europäer. Sie berichten, wovon wir heute nur von weither Kenntnis nehmen: von Bombardierungen, Vertreibung, Trecks von Flüchtenden, toten Kinder.

Gestrandet im  Hoffnungshafen

Marseille ist der Hoffnungshafen, in Marseille kommen jüdische, linke und andere von Nazideutschland und dem kollaborierenden Vichy-Regime Bedrohte zusammen. Anna Seghers gehörte selber zu ihnen, als Jüdin und Kommunistin. 1941 gelang ihr mit ihrer Familie die Ausreise nach Mexiko. Ihr Roman «Transit» ist auch eine Hommage an den mexikanischen Botschafter in Marseille, Gilberto Bosques, der 40’000 Verfolgten die Ausreise in sein Land ermöglichte.

Hauptfiguren sind in Marseille Gestrandete: Marie, die verzweifelt ihren Mann sucht, ohne zu wissen, dass sich dieser in Paris beim Einmarsch der Nazis das Leben genommen hat, Franz, der über einen weiteren Emigranten, Paul, zufällig an die Papiere und den Koffer des Toten herangekommen ist und sich in Marie verliebt, ohne sie über das Schicksal ihres Mannes aufzuklären; ein Arzt, mit Marie liiert, eine französische Helferfamilie und diverse weitere Figuren.

Der Roman ist ein herausragendes Dokument der europäischen Exilgeschichte. Wer das Buch nicht kennt, findet die Infos im Netz. Lieber würde man in einem Programmheft einiges darüber lesen – denn die Theaterfassung von Regisseurin Katja Langenbach erzählt nicht linear, sondern in Fragmenten. Andrerseits ist gerade dies die Stärke der Inszenierung.

Transit: 25. und 26. August, 20.30 Uhr, Halle Lattich, Güterbahnhof St.Gallen
lattich.ch

Die Spieler wechseln mit Ausnahme von Marie ihre Rollen, sprechen im Chor, rollen und zerren sich über die Bühne, werden zu einem einzigen Flüchtlingskörper. Martin Carnevali, Hella Immler, Alexandre Pelichet und Marta Rosa spielen mit geballter Kraft und doppeltem Talent für Schauspiel wie für Bewegungstheater. Sprechszenen kippen in präzis geführte Choreographien (Exequiel Barreras), die Musik steigert, manchmal an der Pathosgrenze, das Klima der Bedrohung.

Die Bühne spiegelt das Fragile und Rastlose der Flucht. Die Fischernetze, die den Spielraum abgrenzen, geben keinen Halt. Auf den paar Stühlen, die das einzige Mobiliar bilden, ist kein Ausruhen möglich, aus den Lampen fällt ein Licht, das auch von den Scheinwerfern der Faschisten stammen könnte.

Atmosphäre der Ausweglosigkeit

Über fünfviertel Stunden verdichtet sich die Atmosphäre von Ausweglosigkeit, unterbrochen von verzweifelten Hoffnungen, die halten bis zur nächsten bürokratischen Hürde. Die Liebesgeschichten um Marie rücken gegenüber dem Roman in den Hintergrund; allgegenwärtig ist die Angst, dazwischen blitzt auch mal ein Wunschbild auf, bescheiden, nur «ein Tisch, an dem man für dich auseinanderrückt…».

Seghers’ Figuren stehen archetypisch für die Flüchtenden dieser Welt. Als wäre man selber auf offenem Meer, sieht und hört man Szenenfragmente auftauchen, Sätze, an die sich die Spieler klammern wie Ertrinkende an eine Boje. Bis zum letzten Satz von Marie, dem Hoffnungs- und Verzweiflungssatz zu gleich: «Bis ans Ende der Welt»…

Die Lattich-Halle, selber ein Transit-Ort, ist in ihrer Rohheit und Weitläufigkeit ideal, sowohl fürs Thema als auch für die bewegte Inszenierung. An der Premiere vom Donnerstag gab es volle Ränge, viele Kantischülerinnen und -schüler und heftigen Applaus. Gespielt wird bis Sonntag.

Marta Rosa, Alexandre Pelichet, Hella Immler und Martin Carnevali (von links).

 

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