, 3. Oktober 2015
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Alltag in der Waisenanstalt

Die Kantonsregierung von Appenzell Innerrhoden lässt die Geschichte der «Stääg» aufarbeiten. In dem Haus an der Haslenstrasse in Appenzell waren während 130 Jahren Waisen- und Verdingkinder interniert. Heute ist die Steig eine Einrichtung für die Behindertenbetreuung mit Werkstätte und Wohnheim.

Der Waisenhausalltag um 1913. (Bild: Museum Appenzell)

Von 1853 bis 1982 war die Steig Waisenanstalt und Kinderheim und wurde von Ingenbohler Schwestern geführt. In diese Zeit fallen düstere Abschnitte. In der 2009 erschienen Jubiläumsschrift zum 25-jährigen Bestehen der «Werkstätte und Wohnheim Steig» heisst es mit Blick auf die frühere Geschichte:

«Ins Waisenhaus oder Kinderheim eingewiesen wurden Kinder, deren Mütter verstorben waren und der Vater nun alleine war. Solche Praktiken waren damals üblich. Auch ausserehelich geborene Kinder wurden in die Steig ver- setzt, weil die Mutter einem Erwerb nachgehen musste. Allgemein galten Kinder, welche nicht ehelich geboren worden waren, bis in die 60er-Jahre hinein leider als minderwertig, obwohl sie ja die Einzigen waren, die an ihrem Status unschuldig waren. Eine damals übliche und nicht nur in Appenzell verbreitete bedauernswerte Praxis.»

Schläge und knien auf Holzscheiten

Unter den Schwesternhauben gab es keine Barmherzigkeit für die Kinder. Im Rückblick der Jubiläumsschrift heisst es: «Schläge mit Teppichklopfern, Holzleisten und knien auf einem Holzscheit waren übliche Strafen, die Arme ausgestreckt und mit den damals verwendeten Chromstahltellern beladen. Schläge, wenn sich die Arme senkten.»

Der 1950 geborene Verfasser des Textes fährt fort:

«Auch zu meiner Schulzeit waren solche Methoden noch gängig und auch mehrtägige Einsperrung in dunkle Räume. In den Sommerferien mussten die Mädchen stricken: Pullover, Socken und Handschuhe. Dann mussten die Matratzen nach draussen getragen und ausgeklopft werden. Die Buben halfen in der Landwirtschaft. Während des Sommers mussten sie für die Konservenfabrik Bischofszell arbeiten: Bohnen put- zen, deren Spitzen abschneiden und die Fäden entfernen. Waren die Bohnen bearbeitet, folgten die Karotten.»

Fünf bis sechs Schwestern für die Betreuung von 100 Waisenkindern

Den Kindern wurde vor allem Gottes- und Obrigkeitsfurcht eingepflanzt. In der Jubiläumsschrift heisst es dazu:

«Es wurde viel gebetet. An und für sich ist das sicher richtig. Aber sehr oft geschah es unter Zwang. Zum Besuch des Sonntagsgottesdienstes in der Pfarrkirche St. Mauritius und der Schulen marschierten die Kinder in Uniformen und Zweierkolonne nach Geschlechtern getrennt. Schritten sie zur Schule, teilten sie sich am Landsgemeindeplatz auf, die Mädchen zur Mädchenschule in der Chlos und die Buben in die Landespädagogische Fachhochschule auf der Hofwiese, konsequent auch nach Geschlechtern getrennt.»

1948 waren fast 100 Waisenkinder in der Steig untergebracht. Betreut wurden sie von fünf bis sechs Schwestern. 1972 waren 50 bis 60 Kinder und lediglich fünf Schwestern im Heim. Oft kamen die Kinder als Babys in die Steig und blieben bis zum Ende ihrer Ausbildung.

Kinderheim_Steig Dreikoenigsfeier 1972 (Bild Museum Appenzell)

Dreikönigsfeier im Kinderheim Steig, 1972. Bild: Museum Appenzell

Annette Konrad sprach mit Schwester Prisca Siffert, die von 1948 bis 1972 im Waisenhaus arbeitete, und diesem auch als Oberin vorstand. «Es war schrecklich für mich, als ich hinkam», sagte die Schwester. «Es war alles arm, das Kinderheim war sehr arm eingerichtet. Es war da kein WC mit Spülung. Das erste halbe Jahr war ganz schlimm. Ich wollte immer gehen.» Das Gespräch ist im Sammelband FrauenLeben Appenzell veröffentlicht worden.

Licht in die Zeit de fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bringen

Jetzt soll der Heimalltag zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1980er-Jahren wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Damit schliesst sich die Kantonsregierung von Appenzell Innerrhoden den gesamtschweizerischen Bestrebungen an, Licht in die Zeit der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu bringen und die Opfer dieser Willkürzustände zu entschädigen. Grossrat Martin Breitenmoser machte im März dieses Jahres im Kantonsparlament einen Vorstoss, um die Geschehnisse im Kinderheim Steig aufzuklären und die Opfer finanziell zu entschädigen.

Regierungsrätin Antonia Fässler sagt auf Anfrage, dass wahrscheinlich noch in diesem Jahr ein Historiker oder eine Historikerin mit entsprechenden Erfahrungen beauftragt werde, den Heimalltag in der Steig unter dem Einfluss der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wissenschaftlich aufzuarbeiten.

Laut Fässler ist in dieser Sache die Aktenlage im Landesarchiv sehr dürftig. Die Magistratin erhofft sich aber, dass sowohl ehemalige Heimkinder wie auch frühere Beschäftigte des Heims gefunden werden, die sich zu den Geschehnissen äussern wollen. Für die Opferbehandlung respektive die Entschädigungsfrage sei für den Kanton massgebend was der Bund entscheide. Für Fässler ist die Problematik der von den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffenen Menschen mit der Aufarbeitung der Geschehnisse im Kinderheim Steig wahrscheinlich nur teilweise gelöst, weil die traumatischen Nachwirkungen damit nicht ausgeblendet werden könnten.

 

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