, 8. Juni 2017
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Amore ohne Netz

Im Zirkuszelt auf der St.Galler Kreuzbleiche hatte die jüngste Produktion des Cirque de Loin Premiere: «Ronamor» ist ein poetisches Liebesgerangel mit starken Liedern, Selbstironie und Familienanschluss.

Szenenbilder: Sabrina Christ

Es geht schon beim Eingang los – eine Besucherin wird als «nonna» begrüsst, ein anderer ist angeblich der von weit angereiste Papa des Bräutigams, mich umarmt eine überschwängliche Maria, oder wie hiess sie gleich, als «caro zio». Die Verwandtschaft ist etwas unübersichtlich, Hauptsache man gehört zur Familie.

In der Pause wird der Zirkusdirektor die ganze Hochzeitsgesellschaft zum Erinnerungsfoto vor dem Zelteingang zusammentrommeln. Nur Pech, dass das Handy grad in dem Moment schlappmacht. Aber «la mamma» hilft aus. Vorher hatte schon der angebliche «papa Giacomo», in Wahrheit ein uneingeweihter Besucher, aus dem Stegreif eine brillante Rede auf das Brautpaar geschwungen, in italiano. Benvenuti, bienvenu, willkommen in der grande famiglia.

Drinnen prangt ein Transparent an der Zeltwand, diesmal auf Englisch: «Welcome to the wedding of Brigitta & Leonard». In Ronamor, dem jüngsten Stück des Cirque de Loin, geht es um die Liebe und um den Tod, ums Heiraten und um das ersehnte Zirkusfamilienglück. Da gehören Höhenflüge und Tiefschläge dazu, wie sie das Leben schreibt und das Leben unter dem Chapiteau ganz besonders.

Das Zelt ist die neue Heimat von Michael Fingers Cirque de Loin, der auf der St.Galler Kreuzbleiche sein erstes, mehrwöchiges Estival veranstaltet und danach auf Schweizer Tournee geht – mehr zu Finger und seinen Ambitionen hier und hier und auch hier.

Theater ohne Netz

Von wegen Tiefschlägen: Ein «Rieseninferno» sei schon am Anfang der Liebe zwischen Leonard und Brigitta gestanden, erfährt das Publikum gleich zu Beginn, der Brand nämlich des alten gelben Zirkuszelts irgendwo im Süden Europas. Jetzt aber steht das neue da auf der Kreuzbleiche, ein Prachtsexemplar mit Bühne, Seil, einer hübschen Buvette, einem Wohnwägelchen namens «Ufo» für das Brautpaar, einer Ecke mit allerhand alchemistischen Gerätschaften, mit Tischen und Bänken fürs Volk und der Rona-Band, die gleich loslegt und um deren Songs sich die ganze Geschichte dreht. (Im Juniheft von Saiten sind sie besprochen, und wie Drummer Ben als running gag den ganzen Abend lang liebenswürdigst vom Spickzettel ablesen will: Man kann die CD auch kaufen).

Das Motto gibt der erste Song vor: Mais Amor, mehr Liebe, «Fertigliebi», «Bodehaltigi Liebi», «Tüüfgfrorni Liebi», «E Jurte us Liebi», «Kei Sicherheitsgurte us Liebi»… So ist in der Tat, das ganze Stück: ohne Sicherheitsgurt, ohne Netz, getränkt mit Herzblut, gewürzt mit starken Liedern, mit Artistik voll Selbstironie und einer manchmal grimmigen Lebenslust.

Weitere Vorstellungen: 8., 9., 10., 13., 16. und 17. Juni.
Infos und das ganze Estival-Programm: cirquedeloin.ch

Die Geschichte ist simpel gestrickt, man liebt und man rauft sich. Hinten feuert die Ronaband ein mit Giuseppe Berardi (Gitarre) und Bene Utzinger (Drums), mit Impresario Michael Finger und Sängerin Franziska Schiltknecht. Vorne, oben und unten, drüber und drunter die Artisten Cecilia Manfrini und Noah Egli: das Hochzeitspaar, turtelnd mit Messern, verknäult im Sessel und verschlauft am Seil, rasend auf Rollschuhen, rammelnd im Wohnwagen.

Der Tod klopft ans Zirkuszelt

Die subtileren Töne stecken in Fingers Texten: Eine wunderbarere Liebeserklärung als im Lied Schnäggeschüttle – also: mit der Liebsten mal «chli schnudergööfle», «chli schiibewüscherle», «chli schnüerlischriftle» oder «chli schwitzhüttle» – müsste man erst noch dichten. Oder Hermann Hesse sein, der an der Hochzeitstafel auch nicht fehlen darf, und seis bloss um des Reims willen: «Hermann Hesse chum emol cho ässe». Fingers Wortwitz ist aber selten billig, und die heiteren bis hanebüchenen Slapsticks der Artisten passen dazu wie Alperose zu Beschamelsosse.

So wortreich die Liebe besungen wird, so innig die «Musica matrimonica» manchmal daherkommt: Dahinter lauert der Abgrund. «Viellicht isch’s scho verbii», heisst es im Sadsong, noch bevor richtig geheiratet ist, und vielleicht geht das mit «Ma und Frau» sowieso nur «im Himmel». Kein Wunder, dass Brigitta denn auch nach einer Keilerei mit ihrem Leonard tot umfällt. «Irgendwann gahts nüme witer, irgendwo hörts eifach uf», schrummt die phänomenale Band.

Fingers schwarzgallige Seite, die im 2016er Stück Mendrisch (letzte Woche ebenfalls im St.Galler Zelt zu sehen) ins Wüste und Verächtliche kippt, hält hier die Balance zum Menschenfreundlichen. Das liegt vielleicht an der Stimm- und Lebenspartnerin Franziska Schiltknecht, die neben ihrem Gesang mit poetisch-schamanistischen Handgriffen die Dinge zurechtrückt und mit Hirschgeweih und Shruti-Box mal eben Zirkus, Theater und Ritual fusioniert.

Am Ende holt sie auch die tote Brigitta wieder ins Leben zurück. Cecilia Manfrini fliegt hoch zum Zirkusdach in einer schwindelerregenden Seilnummer. Dann ist «The Wedding Concert» zu Ende, noch einmal rockt «Meh Liebi» durchs Zelt, und die Hochzeitsfamilie, Verwandtschaft inklusive, tanzt in die St.Galler Vollmondnacht hinein.

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