, 10. September 2019
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Angstlos in die Angst

Starke Bilder einer angstbesetzten Realität zeigt die Tanzkompagnie House of Pain von Jasmin Hauck und Cecilia Wretemark. «Feeding Crocodiles» hatte in Winterthur Premiere und kommt jetzt nach St.Gallen. von Marlen Saladin

Tänzerin Cecilia Wretemark. (Bilder: Tanja Dorendorf)

Es knirscht unter den Sohlen, die Luft ist neblig und kratzt in den Atemwegen, als wäre gerade ein Gebäude zusammengestürzt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer betreten das Theater am Gleis in Winterthur über die Bühne, begegnen aus nächster Nähe den Materialien, die diesem Abend das Gesicht geben: zerstückelte Gipsplatten, die von Seilen hängen und den Boden bedecken. Ein Körper ist undeutlich unter Schichten weisser Scherben auszumachen.

Erst nach dem Gang durch dieses Bild der Zerstörung kann das Publikum seine Plätze einnehmen – aber die Sicherheit, die der Zuschauerraum sonst bietet, ist erschüttert: Wir sind Teil des Geschehens. Verstecken gilt nicht.

Eine ungewöhnlich direkte Begegnung, zu der das Publikum hier von der Tanzkompanie House of Pain eingeladen wird. Gemütlichkeit soll sich nicht einstellen, das ist von Anfang an klar. Aber Gemütlichkeit passt auch nicht zum Thema dieses Abends: Mit ihrer neuen Kreation Feeding Crocodiles gehen die Choreographin Jasmin Hauck und die Performerin Cecilia Wretemark der Angst auf die Spur: Wie wirkt sie sich auf Körper und Innenwelt aus? Was sind ihre Gesichter? Was macht sie mit uns?

Unerschrocken in den Abgrund

2015 gegründet, sind House of Pain bisher mit Stücken in Erscheinung getreten, denen eine Bild- und Körpersprache von grosser Direktheit eigen ist. Unerschrocken und scheinbar rückhaltlos werden Gefühle und Themen verkörpert, um die das allzu feine Empfinden lieber einen vorsichtigen Bogen macht. Die Werke des Tanzkollektivs wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Werkbeitrag 2015 und 2017 der Stadt St. Gallen.

Unerschrocken geht auch das neue Stück sein Kernthema an. Angstlos mitten in die Angst hinein, sozusagen. Cecilia Wretemark durchtanzt, durchkriecht und durchwirbelt alle Facetten der Angst, begleitet vom Performance-Videokünstler Kristian Breitenbach. Angst ist weniger als Gefühl präsent denn als Zustand, als Dauerstress, der Körper und Seele beherrscht.

Wretemarks Bewegungen drücken anfangs Zaghaftigkeit aus, wenn sie versucht, Halt zu finden auf einem zerborstenen Boden. Sie drücken aber immer wieder auch den wilden Versuch aus, sich der Angst zu ent-tanzen. Aber sie selbst scheint zu zerbersten, ein Zerbersten, das innen anfängt und ihren ganzen Körper erfasst. Und sogar ihr Gesicht ist in Stücken, wenn es von Breitenbach auf die Scherbenwand projiziert wird. Wir blicken einer in sich gefangenen, keinen Ausweg aus sich selbst herausfindenden Angst ins entstellte Gesicht.

Es ist eindrücklich zu sehen, wie intensiv sich Wretemark in die unangenehmsten Körpersituationen hineinwirft – an der Grenze des Unangenehmen auch für die Zuschauenden: Stillsitzen fällt schwer, wenn sie sich in ein panisches Atmen hineinsteigert, bis das Pfeifen ihrer Luftröhren zu einem schmerzhaften Stakkato wird. Am liebsten würde man ihr zu Hilfe eilen, irgendetwas tun, damit diese faszinierende, filigran-athletische Tänzerin nicht vor unseren Augen ihren Verstand verliert.

Feeding Crocodiles: Weitere Vorstellungen 11., 12. und 18. September, 20 Uhr, Grabenhalle St. Gallen

houseofpain-physicaldancetheatre.com

Die Intensität der körperlichen Ausdruckssprache wird immer wieder gebrochen durch den Einsatz der Videokamera. Es entstehen so zuweilen zwar starke Bilder, und in den besten Momenten gelingt es, auf der Bühne ein Zusammenspiel von Videokunst und Bewegung zu erschaffen. Aber die technischen Geräte und Kabel, die flimmernden Projektionen lenken von der unmittelbaren Sprache des Körpers ab.

Diese Brechung ins Indirekte, Übersetzte, Vervielfachte kann künstlerisches Konzept sein. Eher aber wird dem direkten körperlichen Ausdruck damit die Kraft genommen. Es entsteht das Gefühl einer Zusammenhangslosigkeit, als wären nicht nur die Wände in Scherben, sondern als bestünde auch die Performance aus disparaten Bruchstücken eines verlorenen Ganzen.

Plötzlich der Ausweg

Wenn die Tänzerin am Ende plötzlich den Notausgang an der hinteren Wand öffnet und so den Bühnenraum abrupt verlässt, ist das ein starkes Statement: Der Angstraum, aus dem es zuvor keinen Ausweg zu geben schien, wird der Illusion überführt. Durch die Plötzlichkeit wird aber auch alles zuvor Gezeigte infrage gestellt.

Es bleibt nach diesem Abend eine leise Verwirrung zurück: Eine Stunde lang ist man der Tänzerin durch die leidvollsten Verrenkungen gefolgt, hat mit ihr versucht, auf Zerbrochenem Fuss zu fassen, hat sich durch alle Situationen der Angst führen lassen – um am Ende zu merken, dass alles obsolet war, weil der Raum ja verlassen werden kann. Viel Energie, viel Ausdruckswillen wird auf die Angst verwendet – und wenig auf den Prozess der Befreiung.

 

 

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