, 3. Oktober 2021
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Applaus genügt nicht

Die Schweiz altert – und braucht in den nächsten Jahren tausende zusätzliche Pflegefachleute. Das Berufs- und Weiterbildungszentrum St.Gallen bildet sie aus. Ein Problem dabei: der Kanton knausert. Ein Beitrag aus dem September-Pflegeheft.

Der landesweite Applaus für das Pflegepersonal damals, am 20. März 2020 im ersten Lockdown, hat Schlagzeilen gemacht. Sie habe sich darüber natürlich gefreut, sagt Marianne Gschwend Wick. «Aber was wir wirklich brauchen, ist nicht Applaus, sondern Anerkennung von Seiten der Politik und der Gesellschaft dafür, was das Pflegepersonal leistet.» Dieses Bewusstsein fehle noch immer weitherum. Viele stellten sich unter Pflege eine Arbeit vor, die auch Freiwillige tun könnten: «Essen füttern und Hintern abwischen», sagt Gschwend drastisch. Das sei aber keineswegs so. «Es fehlt der Respekt für das Knowhow, das diese Arbeit erfordert.»

Marianne Gschwend ist Leiterin der Weiterbildung am Berufs- und Weiterbildungszentrum für Gesundheits-, Sozial- und Hauswirtschaftsberufe BZGS in St.Gallen. Die Höhere Fachschule bildet diplomierte Pflegefachfrauen und -männer aus, Operationsassistent:innen und Biomedizinische Analytiker:innen. Praxis und Theorie gehen Hand in Hand; die Studierenden sind vom Spital oder vom Heim angestellt, lernen blockweise am Ausbildungsort und in der Schule, und dies «problembasiert»: nicht entlang theoretischer Fächer, sondern konkreter Behandlungsfälle, das heisst: fächerübergreifend.

Marianne Gschwend Wick. (Bild: Hannes Thalmann)

66 Studierende, die grosse Mehrheit Frauen, starten im Herbst – 13 mehr als im Vorjahr, aber von einem «Boom» des Pflegeberufs will Gschwend nicht reden: Zuletzt war im Frühling 2021 die Zahl der Neuanfänger:innen stark zurückgegangen.

Ob und wie sich die Pandemie auf den Nachwuchs auswirke, sei noch nicht abzuschätzen. Corona habe einerseits klargemacht, wie unverzichtbar die Pflege sei, andrerseits aber auch die Schattenseiten des Berufs gnadenlos aufgezeigt: Stress, psychische Belastung, strapaziöse Arbeitsbedingungen. «Auch manche unserer Studierenden waren dem Burnout nahe – besonders jene auf den Covid- und den Intensiv-Stationen. Die zweite Welle letzten Herbst war hart.»

65’000 Pflegefachleute gesucht

Nicht erst mit Covid-19 hat es in Sachen Pflege aber «fünf vor zwölf» geschlagen – so steht es im Argumentarium zur Pflegeinitiative, über die wir im November abstimmen. Bis in zehn Jahren bräuchte die Schweiz 65’000 zusätzliche Pflegefachpersonen. Stattdessen können jährlich mehrere tausend Stellen nicht besetzt werden und geben über 2400 Pflegende ihren Beruf auf, fast ein Drittel noch vor dem 35. Lebensjahr. Es harzt mit dem Nachwuchs – viele Faktoren spielten dabei eine Rolle, erläutert Gschwend.

Erstens: die Demografie. Die Schweiz wird immer älter, die Zahl «multimorbider» Patientinnen und Patienten steigt und damit die Notwendigkeit hoch qualifizierter Pflege. Beim heutigen akuten Personalmangel müssten vielerorts Personen mit ungenügender Ausbildung Pflege- und Administrationsarbeit übernehmen, die sie überfordere, sagt Gschwend. Damit sinke die Pflegequalität.

Zweitens: die Arbeitsbedingungen. Pflege heisst Schichtbetrieb – in der Regel wird in Kliniken und Heimen wechselweise in drei Schichten gearbeitet. Das schränkt das Familien- und Sozialleben ein. Die Pflegeinitiative fordert daher verlässliche und familienfreundliche Dienstpläne. Pflege heisst aber auch: mit Schicksalsschlägen, mit Krankheit und Tod zu tun zu haben. Das setze psychische Stabilität voraus, sagt Marianne Gschwend.

Drittens: die Löhne. Für diplomierte Pflegefachpersonen sei der Lohn zwar in Ordnung, heisst es von Seiten der Berufsverbände. Der Einstiegslohn beträgt rund 5600 Franken. Das Problem sind jedoch die tiefen Löhne während der dreijährigen Diplom-Ausbildung. 1100 Franken für Frauen oder Männer, die bereits eine Erstausbildung abgeschlossen, eine Lehre oder eine BMS absolviert und möglicherweise schon Kinder haben: «Das geht nicht auf. Und das ist ein entscheidender Punkt, warum es bei uns mit dem Nachwuchs hapert», sagt Marianne Gschwend

Kanton St.Gallen klemmt – und schliesst

Womit wir vom nationalen Pflegenotstand weg und im Kanton St.Gallen und den Untiefen der hiesigen Gesundheitspolitik angelangt sind. «Unschön» nennt Gschwend die Situation.

Zum einen habe es die Politik verpasst, ihren Beitrag an die Ausbildungslöhne zu leisten – anders als im Thurgau, wo seit bald zehn Jahren das Programm «25 plus» erfolgreich für Nachwuchs sorgt: Es lockt Quereinsteiger:innen in den Pflegeberuf, der Kanton verdoppelt ihnen den Lehrlingslohn und sorgt so dafür, dass die Ausbildung auch mit Familie realistisch wird.

St.Gallen und die beiden Appenzell hätten eine vergleichbare Lösung hingegen bisher verpasst, trotz Drängen von Seiten der Schule, der Spitex oder der Heime. Der neuste Anlauf für eine solche Quereinsteiger-Ausbildung am BZGS, in Teilzeit auf vier Jahre angelegt, stockt, weil der Kanton St.Gallen weiterhin nicht zahlt. Gschwends Hoffnung gilt nun der Pflegeinitiative: Sie würde den Bund dazu verpflichten, die Kantone für ihre Ausbildungsgänge finanziell zu unterstützen.

Zum anderen fehlen wegen der Spitalschliessungen Ausbildungsplätze. Heiden, Flawil und Rorschach haben dichtgemacht, Wattwil wird folgen: Das reisst Lücken auch in Sachen Ausbildung, verschärft noch durch die Stellen, welche in den Altersheimen als Folge der Pandemie verloren gingen. «Wir haben eine schwierige Dynamik», sagt Gschwend – und die wirke sich auf die Stimmung beim Personal aus, wie ihr Studierende berichten: «Sie stehen extrem unter Druck.»

Eine finanzielle Anstrengung, wie sie sich der Kanton im Informatik-Bereich mit seinem 85-Millionen-Programm namens IT-Bildungsoffensive leistet: Das würde sich Marianne Gschwend auch im Gesundheitswesen wünschen. Und lädt den kantonalen Gesundheits- oder den Bildungsdirektor zu einem Besuch an ihrer Schule ein.

Bei all den kritischen Aspekten sagt Marianne Gschwend: «Es ist ein toller Beruf.» Sie selber habe in jungen Jahren die Aussicht auf eine Kombination von Medizin und Pflege zum Beruf hingezogen – aber auch die vielfachen Aufstiegs-Perspektiven Richtung Lehre oder Leitungspositionen in den Institutionen seien attraktiv. Pflegen heisse, täglich mit Menschen und mit allen Facetten des Lebens und auch Sterbens zu tun zu haben. «Das ist das Grossartige an unserer Arbeit: Menschen, die krank sind, pflegerisch so zu unterstützen, dass sie dennoch ein Höchstmass an Lebensqualität haben.»

Dazu brauche es Knowhow, medizinisches wie psychologisches. Hohe Pflegequalität bedeute, den Patienten und die Patientin ganzheitlich ernst zu nehmen, «als biopsychosoziokulturelles und spirituelles Wesen», wie es Marianne Gschwend umschreibt.

Applaus also für die Pflegenden – dank der Pflegeinitiative haben wir es im November in der Hand, den Applaus in nachhaltige Verbesserungen umzumünzen.

Dieser Beitrag erschien im Septemberheft von Saiten.

 

Die Pflegeinitiative

Die Zahlen sind alarmierend: Kostendruck und Personalmangel führen dazu, dass 20 bis 40 Prozent der Pflegefachpersonen Symptome von Burnout, Depression und Angsterkrankungen zeigen. Bis 2030 werden in der Schweiz 65’000 zusätzliche Pflegende benötigt, rechnet das Initiativkomitee der Pflegeinitiative vor.

Bund und Kantone würden bei Annahme der Initiative dazu verpflichtet, für eine ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität zu sorgen. Sie müssten ausserdem sicherstellen, dass eine genügende Anzahl diplomierter Pflegefachpersonen ausgebildet werden und dass die in der Pflege tätigen Personen entsprechend ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen eingesetzt werden. Pflegende sollen mehr berufliche Autonomie erhalten und nicht mehr alle Leistungen von der Ärzteschaft absegnen lassen müssen. Zudem soll der Bund gemäss Initiative Bestimmungen über eine «angemessene Abgeltung» von Pflegeleistungen und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege erlassen.

Das Bundesparlament hat im März 2021 einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative verabschiedet, der eine Ausbildungsoffensive vorsieht sowie die Möglichkeit, dass bestimmte Pflegeleistungen künftig ohne ärztliche Anordnung vergütet werden. Allerdings fehlen im Gegenvorschlag Massnahmen für eine höhere Personaldotation und generell bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege. Am 27. November stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die Pflegeinitiative ab.

 

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