, 30. November 2015
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Auftritt der Spatenbrigade

Regionale Vertragslandwirtschaft versteht sich als Gegenbewegung zur Agrarindustrie. Das Handbuch «Gemeinsam auf dem Acker» von Bettina Dyttrich gibt eine Anleitung dazu und vergisst auch die Menschen dahinter nicht. von Wolfgang Steiger

Umstechen bei Ortoloco in Zürich (Bild: Giorgio Hösli)

Bienensterben, Wasserknappheit, Landgrabbing, Nahrungsmittelvergeudung im Tierfutter und Schädigung der Bodenfruchtbarkeit sind in aller Munde. Um etwas gegen die schädlichen Auswirkungen der industriellen Landwirtschaft zu tun, schliessen sich Bauern, Grüne, Vegane, Gourmets, Gesundheitsbewusste und Solidaritätsbewegte zusammen. «Food Mouvement» nennt sich diese bunte, teils widersprüchliche Allianz. Mit einer Mischung aus Leidenschaft und politischer Überzeugung organisieren die Aktivistinnen und Aktivisten gemeinsam eine Alternative zur konventionellen Landwirtschaft.

Die Idee, dass Gruppen von Konsumentinnen sich bei Bauernhöfen vertraglich zur Abnahme der Erzeugnisse verpflichten, findet in diesen Kreisen zunehmend Anklang. Noch ist die Community Supported Agriculture (CSA) genannte Bewegung keine ernsthafte Konkurrenz zur industriellen Landwirtschaft. CSA umgeht die vorgelagerten Bereiche der industriellen Landwirtschaft (Saatgut, Dünger, Pestizide, Tiergenetik). Und die nachgelagerte Lebensmittelverarbeitung aus den «Rohstoffen» Kartoffeln, Getreide und Milch überlassen die Produzenten nicht weiter der Lebensmittelindustrie. Die Begriffe CSA, solidarische Landwirtschaft (in Deutschland Solawi) oder regionale Vertragslandwirtschaft stehen alle für dasselbe.

Vorausbezahlte Gemüsekörbe

In ihrem Handbuch beschreibt Bettina Dyttrich, «WoZ»-Redaktorin und Saiten-Autorin, ausführlich den Hintergrund der solidarischen Landwirtschaft und erzählt die spannende Geschichte der internationalen CSA-Bewegung. In einem zweiten Teil stellt das Buch 15 Projekte aus der Schweiz mit berührenden Porträts der Menschen dahinter vor und schliesst mit einem fundierten rechtlichen und organisatorischen Leitfaden für die Gründung eines Projektes. Es liefert jedoch keine Anleitung für die Praxis des Gemüseanbaus. Für die Aneignung des Fachwissens, um mit einer Gemüsekooperative Erfolg zu erzielen, empfiehlt sich der Besuch der einschlägigen Lehrgänge der Kooperationsstelle für solidarische Landwirtschaft. Zu jedem Projekt gehören ausgebildete Gemüsegärtnerinnen und -gärtner, die unterdessen gesuchte Berufsleute sind.

Bettina Dyttrich, Giorgio Hösli: Gemeinsam auf dem Acker. Solidarische Landwirtschaft in der Schweiz, Rotpunktverlag Zürich 2015, Fr. 38.–

Buchvernissage in St.Gallen: Mittwoch, 2. Dezember, 19.30 Uhr, Buchhandlung Comedia.

In der Schweiz bieten Dutzende von Organisationen der regionalen Vertragslandwirtschaft Gemüseabos an (eine Liste befindet sich im Anhang von Gemeinsam auf dem Acker, für St.Gallen siehe regioterre.sg). Diese Abos berechtigen die Mitglieder zum wöchentlichen Bezug eines Korbes oder meist eher einer Tasche mit Lebensmitteln in einem Depot in der Nähe ihres Wohnortes. Die Tasche enthält ausschliesslich Saisongemüse, das vielleicht nicht ganz der aus dem Supermarkt gewohnten Norm entspricht, dafür aber fantastisch schmeckt. Wichtig für die Höfe ist das langfristige Engagement der Konsumentinnen und Konsumenten: Sie verpflichten sich, für mindestens eine Saison Gemüse zu beziehen, was es für die Bauern möglich macht, die Produktion zu planen, um Überschüsse zu vermeiden.

Ein zweites wichtiges Element ist die Vorauszahlung. Bettina Dyttrich schreibt: «Das sichert das Einkommen der Produzenten, auch wenn schlechtes Wetter oder Schädlingsbefall zu Ausfällen führt. Ob ein Projekt in diesem Fall Gemüse von anderen Höfen kauft oder ob weniger verteilt wird, müssen die Beteiligten miteinander klären. Gerade solche ‹Krisen› können das Verständnis für die Landwirtschaft fördern.»

Man muss anfügen, dass dies denn auch die Solidarität dieser ganz speziellen Wechselbeziehung zwischen Konsumentinnen und Landwirtschaft ausmacht. Die Konsumenten werden gefordert: Letztlich erhalten sie mit der wöchentlichen Gemüsetasche keine Fertigmahlzeiten. Sie müssen selbst kochen. Bei manchen Projekten (zum Beispiel bei Ortoloco in Zürich) verpflichten sich die Gemüsebezüger ausserdem zu Hilfsarbeiten wie Jäten auf dem Acker.

Mit dem gesellschaftlichen Trend einer apolitischen Weltflucht in einen Öko-Lifestyle hat das also nichts zu tun. Bettina Dyttrich weist darauf hin, wie im Gegenteil dank dem Kontakt mit den Nahrungsmittelerzeugern die Beschäftigung mit dem Essen plötzlich politisch wird und spannende Fragen aufwirft: «Welche Strukturen sind für die ökologische Versorgung der Stadt sinnvoll? Was ist ein fairer Milchpreis? Was ist gute Tierhaltung? Warum bezahlen wir nicht gleich den Lohn der Gärtnerin statt den Preis der Rüebli? Wie gehen wir damit um, dass Energie billig ist und Arbeit teuer, Handarbeit sich also nicht finanzieren lässt?»

Wenn die Böhnlisünderpolizei anruft

Alles fing Ende der 1970er-Jahre in Genf an, mit dem Jardin de Cocagne, dem Schlaraffengarten. Nachdem sie von der Idee schon Jahre zuvor gehört hatte, sah Bettina Dyttrich dort im Frühling 2009 zum ersten Mal solidarische Landwirtschaft. «Agriculture contractuelle de proximité» heisst das Konzept in der französischen Schweiz. Sie fand, diese Gärtnerinnen und Bauern strahlten eine Begeisterung aus, wie sie es zuvor noch nie gesehen hätte. Üblicherweise kamen ihr Bäuerinnen und Bauern abgekämpft und erschöpft vor, geplagt von Geldsorgen. In ihrem Artikel in der «WoZ» hiess es dann: «Agriculturelle contractuelle macht offensichtlich glücklich.»

Zur gleichen Zeit verging den Teilnehmern eines montäglichen Diskussionszirkels zu genossenschaftlichen Wirtschaftsformen im linken Zürcher Treffpunkt Kasama die Lust, immer nur zu diskutieren. Der «WoZ»Artikel über den Jardin de Cocagne inspirierte die Gruppe zur Gründung der Kooperative Ortoloco im Limmattal zwischen Dietikon und Spreitenbach. Heute, fünf Jahre nach der Gründung, versorgt die Kooperative 220 Haushalte mit Gemüse und gibt Arbeit für drei Gartenprofis, die sich 150 Stellenprozente teilen.

Der Wirtschaftshistoriker und Informatiker Simon erzählt im Buch, wie er während seinen praktischen Einsätzen auch heute noch Diskussionen führt: «Manchmal kommen wir kaum noch zum Arbeiten! Heute wird viel theoretisch über Wachstumsökonomie diskutiert – Ortoloco setzt sie praktisch um. Wenn es dieses Wissen einmal in breiteren Kreisen braucht, kann ich es weitergeben. Denn die Wirtschaft wird nicht immer so weiterwachsen können wie bisher. » Zwei Drittel der Arbeit bei Ortoloco leisten die Genossenschafter gratis. Alle müssen mindestens zehn Halbtage pro Jahr mitarbeiten. Ortoloco hat höchste politische Ansprüche, da es den Mitgliedern um nichts weniger als um eine solidarischere und ökologischere Wirtschaft geht.

Einer der Höhepunkte im Gartenjahr bei der Kooperative ist das Umstechen im Frühling. Um den Boden nicht der Verdichtung durch den schweren Traktor, der den Pflug zieht, auszusetzen, fand sich am Samstagnachmittag des 15. März 2015 eine 200köpfige Spatenbrigade ein. Unter musikalischer Begleitung einer Balkanbläser-Gruppe gruben die Helferinnen und Helfer den Acker um, während fünf Tänzer als Fenchel, Lauch und Rüebli über den Acker hopsten. Ortoloco verteilt für geleistete Einsätze auf der Mitgliederplattform my.ortoloco eine virtuelle Bohne. Wer Ende Jahr zu wenig Bohnen hat, bekommt einen Anruf von der «Böhnlisünderpolizei ». «Es ist eine Frage der Fairness: Engagierte Leute ärgern sich, wenn andere schwänzen. Und die Arbeit muss gemacht werden», sagt Anita von Ortoloco.

Werkzeugkiste für das Umsetzen von Träumen

Mit Gemeinsam auf dem Acker legt Bettina Dyttrich ein Standardwerk vor, das zeitlich passend zum Generationenwechsel in der Produzenten-Konsumenten-Kooperativen-Bewegung erscheint. Die Pioniere aus den 1980erJahren treten ab und für junge Solidaritätsbewegte kommt der Zeitpunkt, die Theorien in die Praxis umzusetzen. Das Buch regt dazu an, etwas anzupacken, das unser Leben und die Welt positiv verändert. Es ist eine Werkzeugkiste für das Umsetzen von Träumen, spart aber nicht mit warnenden Hinweisen im schwierigen Umfeld der stark verrechtlichten Landwirtschaft.

Die Ingenieur-Agronomin und Rechtsanwältin Claudia Schreiber sagt im Interview mit Dyttrich: «Man kann die Gesetze, von denen wir umgeben sind, als Machtsystem anschauen, dem man ausgeliefert ist. Diese Haltung ist aber wenig kreativ: Wer sich als Opfer unseres Rechtssystems fühlt, ist in der Landwirtschaft definitiv nicht am richtigen Ort.» Wichtig also: Bei einem regionalen Vertragslandwirtschafts-Projekt gehört auch eine juristisch versierte Person dazu.

 

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.

 

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