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Baukulturelles Grossprojekt
Der Bauatlas Appenzellerland leistet praktische Hilfe beim Bauen an historischen Häusern und erzählt auch ein Stück Kulturgeschichte – nicht nur für Fachleute eine Fundgrube.
Wer weiss, was eine Hohlkehle oder ein Kreuzgwette ist? Eben. Sagen wir mal, es gehört nicht gerade zum Allgemeinwissen. Die Begriffe kommen aus der Baukultur und bezeichnen typische Elemente von Appenzellerhäusern. Als Hohlkehle bezeichnet man eine spezielle, abgerundete Form der Vordachverkleidung, die vor allem an repräsentativen Appenzellerhäusern anzutreffen ist, beispielsweise von Fabrikantenfamilien. Die Kreuzgwette hingegen sind oft in bescheidenen Appenzellerhäusern ohne Firstkammer zu finden, die über Kreuz verdübelten Balken sollen das Ausbauchen der Giebelwände verhindern.
Lernen kann man all das und noch viel mehr auf bauatlas.ch. Das kostenlose digitale Nachschlagewerk für das Bauen an historischen Häusern will einerseits als «Arbeitsgrundlage mit Rezeptcharakter» dienen und andererseits das Baukulturerbe festhalten, weitervermitteln und in die Zukunft führen. Und das möglichst verständlich und nutzbar, nicht nur für die Bau- und Architekturnerds, sondern auch für Neulinge und Branchenfremde.
In der heutigen Zeit, wo Ersatzneubauten eigentlich nur noch in Betracht gezogen werden sollten, wenn es nicht anders geht, ist ein solch niederschwelliges und dennoch umfassendes Infoportal viel wert. Viele Bauschäden sind nämlich eine Folge von unsachgerechten Reparatur- und Umbauarbeiten. Über die Jahrhunderte ist viel Wissen etwa über historische Konstruktionen oder Baumaterialien verloren gegangen. Zudem setzt man heute oft lieber auf vermeintlich kostengünstigere moderne Baustoffe und Verfahren – wider besseres Wissen. Der Bauatlas kann hier Abhilfe schaffen.
Ausführliche Vorarbeit
Erfunden wurde er von Fredi Altherr. Der Architekt aus St.Gallen war fast 20 Jahre lang kantonaler Denkmalpfleger in Ausserrhoden. Mit 62 hat er sich entschlossen, das Projekt eines digitalen Nachschlagewerks anzugehen. Motivation dafür war die Feststellung, dass unzählige Bauschäden und gestalterische Fehlgriffe durch bessere Informationen über die historische Bauweise und ihre Hintergründe vermieden werden können.
Mittlerweile sind sechs Jahre vergangen, und seit dem Launch vor eineinhalb Jahren kommen stetig weitere Bauatlas-Nutzer:innen hinzu: Architekten, Bauherrinnen, Handwerker, aber auch Leute aus der Verwaltung oder anderweitig Interessierte. Über 3500 Personen brachten in einem Jahr rund 27’000 Klicks. Der Fokus des Nachschlagewerks liegt auf Bauten des Appenzellerlands, aber die Plattform ist offen angelegt. «Struktur und überregional gültige Inhalte werden anderen Regionen oder Kantonen kostenlos für eigene Ausgaben zur Verfügung gestellt», erklärt Altherr.
Das wird aber voraussichtlich noch etwas dauern, denn der Weg zum Status quo war schon ordentlich lang und das Ziel ist noch nicht erreicht. Laufend kommen neu erarbeitete Themenbereiche hinzu, zuletzt waren es die Böden. «Der Bauatlas ist ein vielschichtiges Projekt», sagt Altherr. Die Gespräche mit Handwerker:innen und anderen Fachleuten sowie das Aufbereiten der Bilder, Filmsequenzen, Planskizzen, Erklärtexte und Querverweise nehme viel Zeit in Anspruch. Von der Denkarbeit ganz zu schweigen. Konzeption und Finanzierung haben gut zwei Jahre benötigt.
Allein ist ein solches Projekt nicht zu stemmen. Projektleiter Fredi Altherr hat mittlerweile ein breit aufgestelltes Team im Rücken, zu dem unter anderem der Architekt Moritz Wick (Modellzeichnungen und IT-Belange), Martin Benz (Fotografie) und Bänziger Hug (Gestaltung und Programmierung) gehören. Finanziert wird der Bauatlas von den beiden Appenzell und dem Kanton St.Gallen, dem Bund, Stiftungen, Ausserrhoder Gemeinden, Handwerksbetrieben und Planungsbüros sowie Fachorganisationen und durch Eigenleistungen. Trägerin ist die Sektion St.Gallen/Appenzell des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA.
Aufgeräumte Struktur
Der Bauatlas wirkt trotz der Komplexität aufgeräumt. Ganz links befindet sich ein abstrahiertes Modellhaus. Einzelne Elemente leuchten beim Mouseover gelb auf. Sie stehen für die insgesamt 18 Themen, in die man sich per Klick vertiefen kann. Bereits online – samt Literatur- und Abbildungsverzeichnis – sind unter anderem die Themen Haustyp, Holzbau, Dachkonstruktion, Bauphysik oder Anstrich und Farbe. Bis Sommer 2025 sollen die restlichen folgen, darunter die Themen Fassadenverkleidungen, Fenster, Dämmung oder Umgebung.
Die 18 Themen sind wiederum unterteilt in die Kapitel Überblick, Geschichte, Konstruktion und Gestaltung. Zum Beispiel das Thema Nr. 08 Bedachung, wo man auch die Infos zur eingangs erwähnten Hohlkehle findet.
Das Überblickskapitel versammelt allgemeine Infos zum Dach, der sogenannten «fünften Fassade» und dessen typische Ausprägungen im Appenzellerland. Im Kapitel Geschichte erfahren wir, dass man ab dem 16. Jahrhundert aus Wetter- und Brandschutzgründen von Brettschindeln auf Ziegel umgestiegen ist, ergänzt mit einem Luftbild aus Rehetobel, wo die roten Ziegeldächer bis heute das Dorfbild bestimmen.
Ausführlicher kommen die letzten beiden Kapitel daher. Im Kapitel Konstruktion werden verschiedene Bauweisen und Konstruktionsarten erklärt, etwa das Sparrendach, der Schindelunterzug oder die Ortverlängerung. Dazu gibt es nebst fotografischem Anschauungsmaterial etliche detailgenaue Vektorzeichnungen, die wie auch die Texte allesamt als PDF heruntergeladen werden können. Im Kapitel Gestaltung folgen schliesslich Infos zu diversen Materialien, Ausführungen und Eigenheiten, auch hier wieder von reichlich Bildmaterial flankiert.
Anschlussfähiger Mix
Die Bildwelt ändert sich je nach Themenbereich. Sind es bei der Bedachung vor allem Vektorzeichnungen und Detailfotografien, findet man bei Themen wie Bauphysik oder Farbe und Anstrich auch einmal Infografiken, Wärmebilder oder kleine Videos, die eine bestimmte Technik illustrieren. Das alles ist sehr anschaulich, gut portioniert und anschlussfähig aufbereitet. Das gilt auch für die Sprache. Ein grosser Pluspunkt diesbezüglich ist das Verzeichnis mit Fachbegriffen oben rechts auf der Startseite. Es ist auch eine Art Einfallstor für Neugierige. Einmal im Bauatlas drin, kommt man nur schwer wieder raus. Überall findet sich Überraschendes und Wissenswertes rund um die Appenzellerhäuser, auch wenn man sich nicht professionell für sie interessiert.
Das liegt nicht zuletzt am guten Mix des Nachschlagewerks. Nebst nerdigen Baugeschichten erzählt der Baualtlas nämlich auch allerhand Kulturgeschichten. Habt ihr zum Beispiel gewusst, dass sich die Appenzeller Tapeten gestalterisch von denen anderer Kantone unterscheiden? Im Archiv der Ausserrhoder Denkmalpflege liegt eine Sammlung von über hundert alten Tapetenmustern. Und dass die Tapeten früher nicht nur den Wind, sondern auch Wanzen und Flöhe vor dem Eindringen abhalten sollten? Eben.