, 25. September 2015
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«Bereit sein ist alles»

Am 18. September feierte Max Frischs Andorra Premiere am Theater St.Gallen – nun richtet sich der Ende Saison abtretende Schauspieldirektor Tim Kramer in einem offenen Brief ans Schauspielensemble.

Schauspieldirektor sein ist wunderbar, zwei Eröffnungspremieren, zwei Erfolge. Zunächst beim Publikum, ausverkaufte Vorstellungen und Standing Ovations bei Anna Karenina, Standing Ovations und hoffentlich bald ausverkaufte Vorstellungen bei Andorra.

Einsatz und Hingabe aller Beteiligten wurde erkannt und honoriert. Und auch gute Presse, das ist ja nicht immer kongruent, und umso mehr freut es, wenn es in diesen Fällen zutrifft. Soll er doch zufrieden sein, der Kramer.

Aber trotzdem: Ein Stachel sitzt und sticht. Die Entscheidung des Andorra-Ensembles am Ende des Stückes Originalaussagen über die aktuelle Flüchtlingssituation zu präsentieren, wurde als überflüssig angesehen, zum Teil auch als störend. Bei allen Besprechungen? Ja bei allen!

Ist es also so; war die Inszenierung von Katja Langenbach so schlüssig und griffig, dass die Parallelen zu unserer Zeit offensichtlich wurden? Ja, das war sie, eine grossartig konsequente Arbeit, die wohl auch aus der kontinuierlichen Arbeit in St.Gallen und mit dem St.Galler Ensemble entstehen konnte. Dafür noch einmal meinen herzlichen Dank.

Also gut, dann überflüssig, wir hatten es schon vorher kapiert, wozu noch einmal ausformulieren, das war die eine Meinung. Auf der anderen Seite in Rolf Bossarts wunderbarer Besprechung in Saiten:

«Es ist richtig, dass in der Schweizer Literatur immer der Wirt der Böse ist. Weil der Wirt sich in der Schweiz mit den Gästen gemein machen muss, bleibt ihre Niedertracht an ihm hängen. Denn mangels einer professionellen Gastfreundschafts- und Höflichkeitskultur, wie sie in anderen Ländern gepflegt wird, fehlt ihm das richtige Mittel, sich von ihnen zu distanzieren.»

Das ist so gut, das musste ich noch einmal wiederholen, Sie werden verzeihen. Am Ende jedoch stösst sich auch Bossart an den «Zusätzen», indem er dialektisch folgerichtig urteilt: «Das Mitleid der Anständigen ist der Hauptfaktor, um den Konkurrenzkampf der Ausgeschlossenen in Gang zu halten.»

Beide Standpunkte sind nachvollziehbar, treffen sich aber in der Ablehnung der ausformulierten Positionierung. Eine interessante Gemeinsamkeit die in der Schweiz keine Seltenheit ist, und sich in vielen politischen Prozessen wiederfindet. Lieber gemeinsam gegen etwas sein, als für etwas, lieber in der Deckung bleiben, nur keinen Gesichtsverlust erleiden, als sich offen zu positionieren. Die Rechten sind gegen die Ausländer, aber sind sie für etwas? Die Linken sind gegen den Marktplatz, aber sind sie für etwas?

Fast möchte man mit Hamlet ausrufen:

So macht Bewußtsein Feige aus uns allen;
Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt;
Und Unternehmen, hochgezielt und wertvoll,
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
Verlieren so der Handlung Namen.

Oder besser: Verlieren so den Namen «Tat».

Ich bin stolz auf unser Ensemble, darauf, dass es sich gegen diese «Blässe» gestellt hat, sich nicht nur mit der interpretatorischen und dialektischen Leistung begnügte, Max Frisch für uns heute verständlich zu machen, sondern sich darüber hinaus klar positionierte, auch auf die Gefahr hin angreifbar zu sein, von der einen wie der anderen Seite. Wenn wir etwas verändern wollen, wenn wir uns den Herausforderungen der Zukunft stellen wollen, und das müssen wir, wird es nicht ausreichen nur gegen etwas zu sein.

Insofern bekenne ich mich erneut zu meinem Lieblingszitat aus Hamlet: «Bereit sein ist alles.»

In all seiner manchmal tragischen Konsequenz.

 

Bild: Theater St.Gallen

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