, 13. Februar 2021
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Bestand hat, was erzählt ist – Zum Tod von Helen Meier

Sie war streng mit sich und den anderen. Und sie hat mit ihrer gemeisselten Sprache einen schonungslosen Tonfall in die Schweizer Literatur gebracht wie keine zweite. Letzte Nacht ist Helen Meier 92jährig in Trogen gestorben.

Helen Meier, 17.4.1929 - 13.2.2021 (Bild: Yvonne Böhler)

In der Kurzgeschichte Der halbe Himmel im Band Liebe Stimme von 2000 heisst es: «Vom Tod und von der Liebe mag sie es noch. Von nichts mehr sonst. Von ihm und von ihr. Aber ganz klein. Der Tod ist einfach: Einer sinkt um und ist tot. Die Liebe ist auch einfach: Eine liebt und steht still. Sonst gibt es nichts zu erzählen.»

Tod und Liebe: Das sind die zwei Generalthemen in Helen Meiers Werk. Und vielleicht auch in ihrem Leben. Autobiographisches hat sie lange für sich behalten, in ihren Erzählungen kommt wenig davon überhaupt zum Vorschein. In den Romanen schon eher – wie sehr Werk und Leben auch bei Helen Meier ineinandergreifen, hat Charles Linsmayer nachgezeichnet im ausführlichen biographischen Nachwort zum 2018 erschienenen Sammelband Übungen im Torkeln entlang des Falls.

Frühe Traumatisierungen

Darin wird deutlich, wie frühe familiäre und unfallbedingte Traumatisierungen Helen Meier geprägt haben – und sie, wenn auch Jahrzehnte später, zum Schreiben gebracht haben, zu einem Schreiben, das dann «zur Sucht» geworden sei: «Ich habe schreiben müssen. Ich weiss nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich nicht hätte schreiben können», sagte sie in einem der Gespräche, die Herausgeber Linsmayer 2016 und 2017 bei Helen Meier zuhause in Trogen geführt hat. Und weiter: «Das Schreiben wuchs aus der unglücklichen Lebenssituation heraus.»

1929 in Mels geboren und viele Jahre als Sonderschullehrerin tätig, ist Helen Meier vergleichsweise spät, 1984 mit ihrem ersten Buch Trockenwiese an die Öffentlichkeit getreten. Dafür umso heftiger: Zusammen mit dem Auftritt am Ingeborg Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt machte dies die Schriftstellerin schlagartig bekannt. Seither entstand ein umfangreiches erzählerisches Werk. Dazu gehören die Romane Lebenleben, Die Novizin und Schlafwandel, zahlreiche Erzählbände (Das einzige Objekt in Farbe, Das Haus am See, Nachtbuch, Letzte Warnung und Liebe Stimme) sowie die dokumentarisch gefärbte und eng mit Trogen verbundene Erzählung Adieu Herr Landammann über Jacob Zellweger-Zuberbühler.

2014 und 2105 erschienen im Xanthippe Verlag Zürich die späten und frühen Prosaarbeiten. Im Herbst 2017 brachte der Verlag Huber das genannte Lesebuch Übung im Torkeln entlang des Falls heraus. Dann 2019, im letzten, ebenfalls von Linsmayer betreuten Buch, die Überraschung: In jungen Jahren hatte Helen Meier Märchen geschrieben. Eine Auswahl dieser eher «Anti-Idyllen» zu nennenden Texte erschien unter dem Titel Der weisse Vogel, der Hut und die Prinzessin: Erbauliches, Beklemmendes, Surreales, Traum- und Alptraumhaftes, Moralisches und Amoralisches, ein menschliches und tierisches Bestiarium, von dem bis dahin niemand gewusst hatte.

Mit mitleidlosem Lächeln

Auch in den frühen Texten klingen bereits die Meier’schen Grundthemen an: die Vergeblichkeit des Liebenwollens, die tödliche Gefahr des Lebenmüssens. Helen Meiers Kunst macht in ihren besten Geschichten den Horizont weit, Schmerz, Vergänglichkeit, das Gefährdetsein der menschlichen Existenz sind die grossen Themen. Mit einem «mitleidlosen Lächeln» (so Meier selber in einem Brief an ihren Verleger Egon Ammann) packe sie ihre Figuren an und trenne sich ebenso abrupt wieder von ihnen, stellt Linsmayer fest.

Helen Meiers andere literarische Plattform war die Theaterbühne. Die gegessene Rose wurde 1996 am Theater St.Gallen uraufgeführt. Im Innenhof des Fünfeckpalastes Trogen inszenierte Gerhard Falkner 2002 ihr Stück Die Vereinbarung. Das St.Galler Theater Parfin de siècle spielte ihre Bühnentexte Janus (2004) und Heute (2007).

Im Alter hat Helen Meier die ihr zustehenden Ehren erfahren: den Grossen Preis der St.Gallischen Kulturstiftung 2001, den Ausserrhoder Kulturpreis 2017 oder eine fulminante Feier zu ihrem 90. Geburtstag in Trogen. Bestand habe, was erzählt werde, sagte sie anlässlich der Verleihung des Ausserrhoder Kulturpreises 2017 mit unvermindert fester Stimme, jener Charakterstimme, die ihr Reden und Lesen seit jeher ausgezeichnet hatte. Und sie las eine kurze Erzählung, eine aufs knappste verdichtete und teils in Einzelwortkaskaden gemeisselte Schmerzenserinnerung an das Haus der Kindheit in Mels und den Unfalltod des Vaters. Sie trägt den Titel Erzählen und ist 2014 in Kleine Beweise der Freundschaft erschienen.

«Alt werdende Menschen zu lieben, muss ich erst lernen. Ich muss erst lernen, die Vergänglichkeit zu lieben», sagt die Ich-Erzählerin in Helen Meiers Buch Adieu Herr Landammann zum alternden Jacob Zellweger-Zuberbühler. Die Vergänglichkeit zu benennen und literarisch auszuhalten, ist ihr zumindest in ihrem Werk geglückt. Ihr letztes Lebensjahr war von zunehmender Demenz gezeichnet, wie Linsmayer in seinem Nachruf berichtet. Am 13. Februar ist Helen Meier gestorben.

Helen Meier 2019 in ihrer Wohnung in Trogen. (Bild: Charles Linsmayer)

 

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