, 12. Mai 2019
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Bibliotheken ohne Bücher?

Pius Knüsel ist ein streitbarer Kultur-Kritiker. Das Konzept der Bibliothek habe sich in Zeiten der Digitalisierung überholt, sagt er – aber er zeigte am Freitag in der Hauptpost unter dem Titel «Bibliotheken ohne Bücher, Bücher ohne Papier!» auch ein Schlupfloch auf. Von Eva Bachmann

Das Union, künftiger Standort der Haupstadt-Bibliothek.

Was tut eine Kulturinstitution, die an Bedeutung verliert? Sie vergrössert. Denn Investition dokumentiert Bedeutung. Mit dieser These knüpft Pius Knüsel direkt an den Kulturinfarkt an. Das war das Buch, mit dem er 2012 seinen Abgang als Direktor der Kulturstiftung Pro Helvetia garniert hat. Es machte ihn zum Prügelknaben der Szene, weil er darin die Halbierung der Kultursubventionen vertrat. Seither leitet er die Zürcher Volkshochschule, die gänzlich ohne staatliche Unterstützung auskommen muss – dafür kleiner und lebendiger geworden sei, wie er sagt.

Die universale Bibliothek

In seinem Referat in St.Gallen in der Reihe «Welche Bibliothek wollen wir?» stellte Knüsel den Bedeutungsverlust von Bibliotheken als ausgemachte Sache dar. Das Internet sei die universale Bibliothek der Zukunft, in der viel mehr als in jedem physischen Speicher Wissen vorhanden, abrufbar, jederzeit und überall verfügbar sei. Die sinnliche Qualität eines Buchs will er nicht abstreiten, auch er steckte früher mit Lust seine Nase in jedes frisch gekaufte Exemplar… Inzwischen liest er nur noch digital und sieht sich in der Mehrheit – ein kurzer Blick durch den Zugswagen bestätigt den Befund: Es wird zwar überall gelesen, aber praktisch durchgehend auf Tablets und Smartphones.

Pius Knüsel, ohne Buch. (Bild: Volkshochschule Zürich)

Wir sind eine durch und durch schriftbasierte Gesellschaft, das ist eine Tatsache. Doch werde sich das gedruckte Buch innert einer Generation zum Liebhaberobjekt entwickelt haben, prophezeit er. Damit will er nicht dem Inhalt oder der literarischen Qualität eines Texts die Bedeutung absprechen, hinter die Bedeutung der Bibliothek als Bücherspeicher setzt er aber ein grosses Fragezeichen. Denn die Schwelle zum Internet sei noch niedriger als die zur Bibliothek.

Papiermuseum! Etikettenschwindel!

Damit stellt sich jetzt die Sinnfrage: Braucht es noch eine Bibliothek? Und wenn ja: Wie soll sie aussehen? Was soll sie leisten? Diese Grundsatzfragen gilt es in nächster Zeit in St.Gallen zu beantworten, und Pius Knüsel trug das Seine dazu bei, indem er bewusst die Kontroverse zu seinen Vorrednern in der Vortragsreihe suchte.

Am 22. März hatte der Architekt Max Dudler (Altenrhein/Berlin) über vorbildliche Bibliotheksbauten gesprochen und dabei eine Reihe von ikonischen Gebäuden vorgestellt. Sie alle bauen dem Buch eine Kathedrale. Die Räume sind offen und hoch, Treppenhäuser inszenieren den Aufstieg zu den Sphären des erhabenen Wissens. Unten darf man Kaffee trinken, oben wird studiert. Knüsel nannte diese Art von Bibliothek despektierlich «Papiermuseum». Mit der Stiftsbibliothek sei dieses Segment in St.Gallen bereits hochkarätig besetzt, mehr brauche es nicht.

Am 5. April hatte die Pariser Bibliothekarin Mathilde Servet das Konzept der Bibliothek als dritten Ort, also als Begegnungszone und geteiltes Wohnzimmer vorgestellt. Sehr engagiert und gewinnend hatte sie Bibliotheken in Frankreich und nordischen Ländern präsentiert, in denen Informationen und Kurse aller Art für alle Gesellschaftsschichten angeboten werden. «Etikettenschwindel», sagt Knüsel dazu. Bibliotheken würden damit zu Soziotheken, in denen man Beziehungen tausche anstelle von Wissen. Seine Kronzeugin ist die Bibliothek Dokk1 in Arhus, wo der Schalter der Gemeindeverwaltung im Eingangsbereich, die Bücher aber in der hintersten Ecke zu finden seien.

Dokk 1, die Bibliothek von Aarhus. (Bild: Schmidt Hammer Lassen)

Knüsels Kritik erscheint einleuchtend, blendet aber zwei Fakten aus: Erstens hat die Kantonsbibliothek einen Sammlungsauftrag. Sie muss von Gesetzes wegen zusammentragen, was für das kollektive Gedächtnis des Kantons wichtig ist. Die Speicherfunktion gehört also dazu. Zweitens sprechen die Ausleihzahlen gegen einen Bedeutungsverlust der St.Galler Bibliotheken. Sie haben in den letzten Jahren nicht ab-, sondern zugenommen. Einen wesentlichen Anteil an diesem Erfolg hat die Kinder- und Jugendbibliothek Katharinen, die sich schon am weitesten in Richtung eines dritten Orts entwickelt hat.

Die Lücke – für den direkten Kontakt

Bleibt man dennoch dabei und versteht die Digitalisierung als epochalen Bruch, dann lässt sich mit Alexander Kluges «Lücke, die der Teufel lässt» im Hinterkopf fragen, mit welcher neuen Geschichte die Bibliothek gefüllt werden kann. Sich besinnen auf den Kern, lautet Knüsels Devise – also auf das Wort. Zwar habe sich die Begegnung mit dem Buch als physischem Objekt erübrigt, nicht aber jene mit dem Text und der Autorin, dem Übersetzer oder der Verlegerin, die dahinterstehen. Er ortet die Lücke für die Bibliothek im digitalen Zeitalter bei der Begegnung mit dem Wort. Dem virtuellen Buch setzt sie die reale Anwesenheit, den direkten Kontakt mit den Schaffenden entgegen.

«Welche Bibliothek wollen wir?», fragte die Vortragsreihe des Vereins Pro Stadtbibliothek und stellte drei sehr unterschiedliche Ideen zur Debatte: Wollen wir eine würdige Architekturikone, ein öffentliches Wohnzimmer oder einen Veranstaltungsort? Wollen wir alles zusammen – oder vielleicht einen Kompromiss?

Diese Diskussion wäre auch mit den Nutzerinnen und Nutzern der künftigen Bibliothek zu führen. Am Rand der Veranstaltung war allerdings zu vernehmen, dass hinter den Kulissen fertige Konzepte vorliegen, Raumprogramme definiert und die Laufmeter Gestell berechnet sind. In seiner Antwort auf eine Interpellation deckte der Stadtrat vergangene Woche erst wenige Karten auf. Weitere Informationen gibt es «im Sommer».

1 Kommentar zu Bibliotheken ohne Bücher?

  • Philipp Stuedli sagt:

    Hmm…

    -Laufe in der Bibliothek sehr gerne zwischen den Bücherregalen durch und nimm spontan ein Buch heraus, das mich gerade anspricht.
    Digital hab ich dieselben Gefühle noch nie erlebt.

    -Lege meine Datenspur lieber in der Bibliothek als im Internet.

    -In Sachen Stromverbrauch ist das Digitale nicht gerade Klimaneutral und in Sachen Urheberrecht hätte ich da auch gewisse Bedenken.

    -Fotobücher auf dem Tablett… muss toll sein.

    -Für finanziell nicht so gut situierte find ich die Bibliothek auch ziemlich unersetzbar.

    -Und das es auch noch Orte braucht wo sich Leute begegnen können steht unter anderem ja im Artikel.

    Hoffe die neue Bibliothek kommt und wird schön!

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