, 21. Juli 2020
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Bildwelten aus Signers Lustbibliothek

Die Britische Kunstwissenschaftlerin Rachel Withers durfte sich in Roman Signers Bibliothek umschauen. Die Ausstellung «The Library of Marvels (Expanding Version)» zeigt jetzt ihre Interpretation der schönsten Werke aus diesen Büchern. von Peter Müller

Bilder: Peter Müller

Eine Ausstellung in Form eines riesigen Leporellos. Mit Abbildungen aus Büchern der Bibliothek von Künstler Roman Signer, assoziativ zusammengestellt von einer Kunstkritikerin und Dozentin im Britischen Bath, die damit an ihre frühere künstlerische Tätigkeit anknüpft. Das ist schon spannend genug.

Man kann einfach in diese Bildwelten eintauchen und sich seinen eigenen Assoziationen überlassen, von Vulkan-Ausbrüchen zu Mikroben, vom sowjetischen Kochbuch zu Blitzschlägen und Wetterleuchten. Man kann aber auch zum Begleitbüchlein greifen, das die Bilder und Fotos in weitere Zusammenhänge stellt.

Improvisieren in Coronazeiten

Noch spannender wird es, wenn man sich die Entstehungsbedingungen der kleinen Ausstellung vergegenwärtigt: Eigentlich hätte das Ganze «etwas Grösseres» werden sollen, wie Rachel Withers sagt. Dann kam die Corona-Pandemie dazwischen. Withers, die Kuratorin, sass im Home-Office fest, zusammen mit ihrer Mutter.

Sie liess sich aber nicht unterkriegen und machte, was eben möglich war: Sie improvisierte, bestellte einen billigen A3-Drucker und benutzte sämtliches Material, das in ihrer Reichweite war, von Klebestiften bis Stümpfen von Malstiften. Anschliessend wurden die fertigen Bildtafeln fürs Leporello in Abschnitte unterteilt, in Boxen nach St.Gallen geschickt und dort zusammengesetzt.

Und so stehen die Tafeln jetzt im Ausstellungssaal in der alten Kantonsbibliothek an der Notkerstrasse 22. Ein improvisiertes Projekt in der Coronazeit und gleichzeitig ein bemerkenswerter Kontrapunkt dazu.

Das sind nicht einfach zusammengegoogelte Illustrationen. Mit ihrer ganzen Art und Herkunft haben sie eine eigene, kraftvolle Präsenz. Sie erinnern zudem an die grosse Zeit des St.Galler Jahrmarktes in den Jahren 1850-1914, der schon damals im Bereich des unteren Brühls stattfand, also ganz in der Nähe der alten Kantonsbibliothek.

Zur Fülle seiner Attraktionen gehörten auch diverse Bildmedien – Panoramen, Dioramen, Cycloramen und wie sie alle hiessen. Sie brachten aufregende, starke Bilder aus Geschichte und Gegenwart nach St.Gallen, aus Wissenschaft und Technik, Weltpolitik und Unterhaltung, fremden Ländern und Kulturen. Findige Techniker entwickelten immer neue Attraktionen. Zuletzt, Ende des 19. Jahrhunderts, war es der Kinematograf, der die ganze Branche völlig aufmischte.

Das riesige Leporello in der Kantonsbibliothek ist auch eine Hommage an diese Bilder-Welten, mit denen die Schausteller von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zogen. Auch der inhaltliche Schwerpunkt passt bestens dazu. Naturwissenschaftliche Themen waren auf dem Jahrmarkt des 19. Jahrhunderts sehr populär. Nur schon deshalb, weil es noch kein Fernsehen gab – vom Internet ganz zu schweigen.

The Library of Marvels (Expanding Version): bis 23. August, jeweils Mittwoch bis Samstag, 13 bis 18 Uhr, Sonntag 13 bis 16 Uhr und nach Vereinbarung, Kantonsbibliothek St.Gallen

Eine Ausstellung des mobilen Kulturraumes S4. Weitere Infos und Rahmenveranstaltungen: sg.ch/kultur

Bücher: Ablenkung und Plausch

Wer jetzt denkt, dass er oder sie mit diesem Leporello dem Künstler Roman Signer nachspüren kann: Das funktioniert nur bedingt. Signer jedenfalls wies an der Medienorientierung zur Ausstellung ausdrücklich darauf hin, dass seine Büchersammlung eine reine «Lustbibliothek» sei. Er liest die Bücher nicht, um sich Inspirationen zu holen, sondern aus Plausch, um sich abzulenken, zu erholen. Besonders wichtig sind ihm dabei die Bilder. Er kauft deshalb mit Vorliebe reicht illustrierte Bücher.

Rachel Withers kam das bei ihrem Ausstellungsprojekt natürlich sehr entgegen. Sie hat über den Künstler zum ersten Mal 2003 geschrieben. Dann liefen sie sich immer wieder über den Weg, befreundeten sich schliesslich. Withers besuchte den Künstler auch daheim und bekam so Einblick in seine Bibliothek – und so entstand die Idee, mal etwas mit dieser zu machen.

Eine erste kleine Ausstellung war 2015 in London zu sehen. Die Kantonsbibliothek St.Gallen zeigt nun die überarbeitete, ausgebaute Version. Ausgeschöpft ist «Signers Bibliothek» damit aber nicht. Withers will weiter mit ihr arbeiten.

Und: Im Entree der Kantonsbibliothek zeigt ein Monitor die Kurzdokumentation über eine Aktion Signers 1984, gedreht von Filmemacher Peter Liechti. Signer warf an der Talstation der Mühlegg-Bahn einen Stapel Bücher in die Steinach. Unterhalb des Fussballstation Espenmoos fischte er sie dann wieder heraus. Die Bücher waren 20 Minuten unterwegs gewesen.

 

1 Kommentar zu Bildwelten aus Signers Lustbibliothek

  • Thomas Marbacher sagt:

    Lieber Peter
    Schönen Dank für den Hinweis.
    Gerne besuche ich diese Ausstellung, du hast mich neugierig gemacht
    Thomas

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