, 29. Juni 2020
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Blick voll Liebe

Daniel Meister ist Sohn einer weissen Amerikanerin und eines Afroamerikaners. Was der Tod seiner Adoptiv-Grossmutter mit Goerge Floyd zu tun hat. Von Daniel Meister

Vor ein paar Jahren lag meine Grossmutter im Sterben. Es war der Morgen vor Heiligabend, als ich das letzte Mal zu ihr unterwegs war. Ich wusste, dass ich sie danach wahrscheinlich nie mehr sehen würde, denn in den Wochen zuvor hatte sich ihr Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert. Also reiste ich etwas ängstlich und im Bewusstsein einer gewissen Endgültigkeit von Zürich nach Basel, wo sich ihr Pflegeheim befand.

Mir ist noch in Erinnerung, dass es aussergewöhnlich warm war für die Jahreszeit, mit tiefliegenden Wolken, durch die gelegentlich die Sonne brach, und dass meine Gedanken ständig um Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit Grossmutter kreisten und meine Gefühle von dieser hilflosen Traurigkeit bestimmt wurden, die sich über alles legt, wenn einem bewusst wird, dass man bald einen geliebten Menschen verlieren wird. Und daran, dass mich, während ich im Zug nach Basel sass, plötzlich diese Angst davor befiel, dass Grossmutter reden und dabei etwas Falsches sagen könnte, etwas Verletzendes, etwas, was mein Andenken an sie dauerhaft beschädigen würde.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle zwei Dinge erwähnen. Zum einen: Meine Grossmutter war demenzkrank. Dass sie verwirrende oder irritierende Dinge von sich gab, kam daher öfters vor. Als mein Bruder und meine Mutter sie ein paar Monate zuvor zusammen besucht hatten, hatte sie meine Mutter gefragt, wer denn der charmante junge Herr an ihrer Seite sei und ob Mutter gar plane, ein zweites Mal zu heiraten. Es war auch schon einige Male vorgekommen, dass ich nicht sicher war, ob sie mich wirklich erkannt hatte, und meine Familie hatte mich vorgewarnt, dass sie bei den letzten Besuchen, an denen ich gefehlt hatte, gar niemanden mehr erkannt hatte.

Der zweite Punkt: Meine Grossmutter war eigentlich meine Adoptiv-Grossmutter. Ich bin der Sohn einer weissen Amerikanerin und eines Afroamerikaners und wurde als Kind von einem Schweizer Paar adoptiert. Und weit mehr als die Demenz meiner Grossmutter, mit der ich mich über die Jahre mehr oder weniger zu arrangieren gelernt hatte, hatte meine plötzliche Angst mit dieser Besonderheit in meiner Biografie zu tun: Ich hatte Angst davor, dass meine weisse Grossmutter mich nicht erkennen und etwas Rassistisches über mich sagen würde.

Alltagsrassismus

Das mag auf den ersten Blick vielleicht seltsam wirken, denn meine Grossmutter hatte mir eigentlich nie einen Grund für diese Befürchtung gegeben. Als Kind hatte sie mich und meine Geschwister oft gehütet. Wir hatten immer eine herzliche, liebevolle Beziehung zueinander und ich hatte mich ihr immer verbunden gefühlt, selbst als wir uns später nur noch selten gesehen haben.

Sie war eine kleine, zierliche Person, belesen, modebewusst, stolz auf ihre schicke Wohnung und durchaus undiplomatisch in der Art, wie sie mit oder über Menschen sprach, aber immer fair. Als Teenager hatte ich zwar öfter das Gefühl, dass sie zu sehr auf Konformität fokussiert war, darauf was «man» tut und was «man» nicht tut, und nicht selten war ihre Vorstellung davon meiner Meinung nach um zehn, zwanzig oder auch dreissig Jahre veraltet. Aber das änderte nichts. Ich hatte sie immer sehr geliebt und sie mich, glaube ich, auch.

Aber wer weiss, dachte ich, während ich auf die kahle, zersiedelte Winterlandschaft blickte, die am Zugfenster vorbeizog. Man sieht nicht in die Köpfe der Menschen hinein. Auch nicht, wenn man sie zu kennen glaubt. Ich habe schon Tanten aus der eigenen Familie erlebt, die deutlich jünger als meine Grossmutter sind und sich aus dem Nichts darüber ausgelassen haben, dass «die Tamilen» in der Wohnung über ihrer nun mal stinken und von Natur aus lauter und fauler als «wir Europäer» seien.

Oder nette langjährige Arbeitskolleginnen, die über die neue Putzhilfe im Betrieb Dinge gesagt haben wie: «Ich habe ja nichts gegen Schwarze, aber ich hoffe schon, dass es dann auch sauber wird, wenn die putzt.»

Was denken sie über mich?

Diese Menschen haben sich mir gegenüber nie herablassend oder beleidigend verhalten. Und doch komme ich nicht umhin, mich im Umgang mit ihnen immer wieder mal zu fragen: Was denken sie über mich, was sie mir nicht ins Gesicht sagen? Sehen sie das Nichtvorhandensein meiner Karriere als Rassenmerkmal an, als typisch schwarze Faulheit (obwohl sie selbst nicht mehr als ich erreicht haben)? Können sie mich als gleichwertig akzeptieren? Als Chef? Können sie mich von Gleich zu Gleich lieben? Oder liebt mich meine Tante eher so, wie man einen netten, aber eben doch recht unmenschlichen Hund liebt?

Was bei Grossmutter hinzukam: Sie war in einer völlig anderen Zeit aufgewachsen. Während ihrer Kindheit hatten rassistische Mörder all unsere Nachbarländer regiert. Ein bisschen rassistisch zu sein, gehörte damals auch in der Schweiz durchaus zum guten Ton. Und das nicht nur während des Zweiten Weltkriegs. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie in einer Gesellschaft gelebt, in der es nicht nur salonfähig, sondern normal gewesen war, die Qualität eines Menschen als Erstes an seiner Hautfarbe festzumachen, all seine Eigenschaften mit seiner Hautfarbe zu begründen. Man machte hierzulande noch bis in die 90er-Jahre mit dem Apartheid-Regime in Südafrika Geschäfte, weil man offenbar der Meinung war, dass dieses eben doch eine gewisse Daseinsberechtigung habe.

Wer konnte da schon sagen, ob Grossmutter unter all den schönen Erinnerungen, die sie mit mir teilte und die sie mit mir verbanden, nicht die gleichen Vorbehalte gegenüber mir als Mensch hatte, die rund um sie herum fast immer normal gewesen waren? Die Idee, dass Menschen, je nachdem, wie sie aussehen, verschiedene Eigenschaften haben und unter- schiedliche Behandlungen verdienen, die Überzeugung, in mir mit einem Menschen zweiter Klasse zu tun zu haben: War es nicht sogar wahrscheinlich, dass sie dieses Denken mit sich herumtrug? Und war nicht gerade in den letzten Jahren klar geworden, wie viel Zulauf jene Politiker noch immer erhalten, die quasi mit dem Versprechen antreten, diesen Überzeugungen wieder zu ihrer alten Dominanz zu verhelfen?

Am Sterbebett

Als ich im Pflegeheim ankam, war Grossmutters Zustand noch schlechter, als ich befürchtet hatte. Die Pflegerin, die sich zusammen mit meiner Mutter gerade in dem Zimmer aufhielt, als ich es betrat, wiederholte für mich, was sie meiner Mutter schon gesagt hatte: dass Grossmutter seit Tagen kaum noch ansprechbar ist. Sie liess durchblicken, dass es eher eine Frage von Tagen als von Wochen war, bis sie sterben würde.

Fast während meines ganzen Besuchs lag Grossmutter auf dem Bett und schlief. Ihr Gesicht war eingefallen, wächsern; es glich eher einer Totenmaske als dem Antlitz einer Lebenden. In den drei Momenten, in denen sie aufwachte, war sie desorientiert. Es war klar, dass sie nicht wusste, wo (oder wer oder wann) sie war. Sie erkannte weder die Pflegerin noch meine Mutter noch mich.

Zweimal machte sie Anstalten, aufzustehen und nachdem sie es mit unserer Hilfe getan hatte, suchte sie auf meinen Ellbogen gestützt etwas, das sich scheinbar in ihrem Bücherregal befand, aber bald wusste sie offensichtlich nicht mehr, was es gewesen war oder konnte es uns nicht sagen. Sie, die einmal so wortgewandt gewesen war, konnte sich nur noch in zusammenhangslos und kaum verständlichen gemurmelten Wortfetzen mitteilen.

Als sie zum dritten Mal aufwachte, hatte ich schon Anstalten gemacht, wieder zu gehen. Sie setzte sich auf und blickte mit dem gleich vakanten Blick um sich wie zuvor. Auf das hydraulisch verstellbare Krankenhausbett, das ihr früher ein Graus gewesen wäre und auf dem sie jetzt lag, auf das Zimmer, das noch immer nicht ihres war, obwohl es mit allem voll- gestellt war, was aus ihrer Wohnung übriggeblieben war. Auf meine Mutter. Alles mit dem gleichen stumpfen Blick.

Dann fiel ihr Blick auf mich. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als versuche sie, sich an etwas zu erinnern. Sie hob den Zeigefinger, zeigte auf mich, murmelte etwas, das fast wie mein Name klang, und in ihren Augen konnte ich sehen, dass sie mich, wahrscheinlich, erkannte. Denn ich konnte in ihrem Blick noch etwas sehen: Eine wache, tiefe, umarmende, bedingungslose Liebe.

Wut, Emprörung, Hass – und Liebe

Sie hielt den Augenkontakt lange, vielleicht im Bewusstsein, dass sie nichts mehr sagen konnte, dass das ihr einziger Weg war, zu kommunizieren. Dann lehnte sie sich zurück, lächelte ein verschmitztes Lächeln und schlief wieder ein. Als sie eine halbe Stunde später immer noch schlief, nahm ich ein letztes Mal Abschied von ihr und ging.

Auf der Heimfahrt im Zug versuchte ich, die Trauer beiseite zu schieben, obwohl sie mich würgte, zumindest, bis ich an einem privateren Ort war. Was sich aber nicht beiseiteschieben liess, war die Erkenntnis, dass ich Grossmutter Unrecht getan hatte. Sie hatte, im Gegensatz zu mir, weit darübergestanden, sich mit Äusserlichkeiten aufzuhalten.

Wenn ich heute Bilder von wütenden Demonstrationen sehe, von brennenden Polizeiwachen und vor allem immer wieder Aufnahmen von mordenden US-Polizisten, die ihrer Klientel längst jede Menschlichkeit abgesprochen haben müssen, hilft es mir, an den Blick zu denken, den meine Grossmutter mir als Letztes mitgegeben hat. Er hält den wütenden, empörten, zu Hass bereiten Teil von mir davon ab, zu denken, dass «die Weissen» insgeheim alle so sind. In gewisser Weise versöhnt er dadurch zwei Teile eines nie ganz zusammengewachsenen Amerikas miteinander, die ich durch meine Biografie nun mal beide mit mir herumtrage.

Daniel Meister, 1982, arbeitet bei der Zürcher Radioschule klipp+klang und schreibt für verschiedene Medien über Literatur, afroamerikanische Musik und Rap.

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