, 16. Mai 2016
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Dans-Boek 3: In der Blase

Die in Heiden aufgewachsene Schauspielerin Jeanne Devos studiert mit einem Artist-in-Residence-Stipendium von Ausserrhoden in Brüssel. Im Dans-Boek berichtet sie wöchentlich für Saiten.

Zeitung zu lesen gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, schon gar nicht in einer fremden Sprache. Da ich aber trotzdem wissen will, was da draussen in der Welt gerade passiert, habe ich mir heute morgen die Süddeutsche Zeitung gekauft. Es geht natürlich um die Flüchtlingskrise, die türkische Regierung, die EU, und in dem Zusammenhang auch um Brüssel. Selbst die deutsche Frauenzeitschrift Brigitte hat in der letzten Ausgabe Brüssel zum Thema gemacht. Der Artikel berichtet über einen Verein in Molenbeek – gegründet von Eltern, deren Kinder in den Dschihad gezogen sind. «Les parents concernés» engagiert sich, klärt in Schulen auf und berät Politiker und andere betroffene Eltern.

Isoliert im EU-Bubble

Es ist etwas seltsam, diese Dinge zu lesen, während man selber in Molenbeek Tanzworkshops besucht. Ausserdem hat dieses politische, von der Weltbevölkerung wahrgenommene Brüssel rein gar nichts mit dem Brüssel zu tun, welches ich gerade erlebe.

Dass der Radius unserer Aufmerksamkeit ohnehin klein ist, sieht man spätestens, wenn man sich das EU-Viertel genauer anschaut. Es liegt etwas ausserhalb vom Brüsseler Stadtzentrum und hat eigentlich alles was man im Alltag braucht. Nicht umsonst wird das Quartier auch als «EU-Bubble» bezeichnet. Eine künstliche Blase also, in der sich viele Eurokraten bewegen, ohne das wahre Brüssel je kennenzulernen. Sie verweilen hier unter der Woche, bevor sie am Freitagabend wieder in den Bus zum Flughafen steigen, um in ihr Heimatland zu reisen.

Wo liegt also das wahre Brüssel? Und bewegen wir uns nicht alle in irgendeiner Blase?

Impro mit Kater

Meine letzte Woche steht im Zeichen des Austauschs und der Frage, was ich hier eigentlich suche. Ich habe neben dem Tanzen und durch das Tanzen ein paar nette Bekanntschaften gemacht. Am Montagabend zum Beispiel war ich bei Simon, einem Berner Musiker, der schon seit acht Jahren in Brüssel lebt, zum Abendessen eingeladen. Ein Freund hat uns zusammengebracht. Da neben mir noch zwei andere Schweizer am Tisch sitzen, wird es ein kleiner Heimatabend. Die Gespräche sind anregend, das Essen köstlich. Am nächsten Tag jedoch bereue ich, die letzten paar Gläser Wein getrunken zu haben. Ich mache gerade drei Tage Contact Improvisation und lerne, wie ich jemanden anspringen und über dessen oder deren Rücken runtergleiten kann. Ich bin darin geübt, mit Kater eine Theaterprobe zu meistern. Aber tanzen – das ist nicht nur schmerzhaft, sondern sogar gefährlich!

Abgesehen von dieser Erfahrung macht mir Contact Improvisation erstaunlich viel Spass. Ich bin damit schon an der Schauspielschule in Berührung gekommen. Junge Studenten, die sich ganz gefühlig und in der Situation verloren aneinander reiben, das war meine Erinnerung daran. Und natürlich habe ich es gehasst! Mit Tänzerinnen und Tänzern ist das was anderes. Auch wenn man improvisiert, gibt es Techniken, sich selbst und den anderen zu bewegen.

Überhaupt ist mir aufgefallen, dass Tänzer viel sachlicher, diskreter, zuweilen sicherlich auch ein wenig unpersönlich und einzelgängerisch arbeiten. Und so werde ich auch nie doof angeschaut, wenn ich langsamer bin als die anderen, nicht so geschmeidig, oder meine Beine nicht in die Höhe kriege. Die einzige die mich bewertet bin ich selber. Aber wie heisst es so schön bei Samuel Beckett: «Wieder scheitern, besser scheitern!»

Daran kann ich arbeiten. Und so werde ich noch eine Zeit lang in meiner Blase durch Brüssel tänzeln. Auf und ab und hin und her.

P.S.: Das Foto zuoberst im Beitrag wurde übrigens am Donnerstag nach meiner Räuber-Vorstellung in Darmstadt aufgenommen. Herzliche Grüsse an die lustige Räuberbande – wir sehen uns wieder im Herbst!

jeanne1 KopieJeanne Devos, in Heiden aufgewachsen, hat Schauspiel in Bern und Zürich studiert, war 2010-2013 am Deutschen Nationaltheater Weimar engagiert und ist seither als freischaffende Schauspielerin tätig. In «Hamlet», der Eröffnungspremiere der Spielzeit 2016/17, wird sie als Gast am Theater St.Gallen zu sehen sein. Sie berichtet auf saiten.ch bis zum Sommer im Tagebuch «Dans-Boek» aus Brüssel.

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