Das Kind im Wolfspelz

Meisis im Wald (Bild: pd/Filmstil)

Das bildgewaltige Coming-of-Age-Drama Milchzähne ist das Spielfilmdebüt der Regisseurin Sophia Bösch. Während der Film visuell überzeugt, bleibt er erzählerisch hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Es ist Nacht. Skal­de kann nicht schla­fen. Sie steht auf, geht vors Haus, starrt in die Dun­kel­heit des Wal­des. Im Licht des Mon­des zeich­net sich dort, wo zu­erst nichts war, ei­ne Ge­stalt ab. Lang­sam be­wegt sie sich auf Skal­de zu, ih­re Schrit­te kna­cken im Un­ter­holz. 

Es ist Mei­sis, das Kind, das tags zu­vor plötz­lich bei Skal­de und ih­rer Mut­ter auf­ge­taucht ist. Das Kind, das Skal­de un­mit­tel­bar nach sei­nem Auf­tau­chen im Wald aus­ge­setzt hat. Denn da, wo Skal­de lebt, ist al­les Frem­de ei­ne Be­dro­hung. Kin­der sind kei­ne Aus­nah­me. Jetzt sagt Skal­de ru­hig zu Mei­sis: «Komm mit.» 

Das Co­ming-of-Age-Dra­ma Milch­zäh­ne ist das Spiel­film­de­büt der in Win­ter­thur ge­bo­re­nen Re­gis­seu­rin So­phia Bösch. Der Film ba­siert auf dem gleich­na­mi­gen Ro­man der deut­schen Schrift­stel­le­rin He­le­ne Bu­kow­ski. Im Re­gie­wort schreibt Bösch, dass sie mit Milch­zäh­ne die Ge­schich­te von Frau­en er­zäh­len möch­te, die «ver­schie­de­ne Stra­te­gien ent­wi­ckeln, um mit dem Le­ben in der pa­tri­ar­cha­len Ge­sell­schaft zu­recht­zu­kom­men und schliess­lich ei­nen Aus­weg zu fin­den».

Das Kind aus dem Wald

Die jun­ge Skal­de (Mat­hil­de Bund­schuh) lebt mit ih­rer Mut­ter Edith (Su­san­ne Wolff) in ei­ner ab­ge­schot­te­ten Ge­mein­schaft. Die Zi­vi­li­sa­ti­on ist ir­gend­wann zu­sam­men­ge­bro­chen, so viel wird an­ge­deu­tet. Die ge­nau­en Grün­de für den Zu­sam­men­bruch er­fährt man nicht, aber klar ist: Die Welt aus­ser­halb der Sied­lung ist ge­fähr­lich, und wer aus ihr kommt, ist es auch.

Ir­gend­wann er­scheint das Kind Mei­sis (Vio­la Hinz) im Gar­ten von Skal­de. Er­schro­cken und miss­trau­isch bringt Skal­de es fort, setzt es im Wald aus. Doch das Kind kehrt zu­rück. Und dies­mal nimmt die jun­ge Frau es bei sich auf und ver­stösst da­mit ge­gen das Ge­setz der Ge­mein­schaft. Frem­de will man hier nicht ha­ben, schon gar nicht frem­de Kin­der, denn sie könn­ten Wolfs­kin­der sein. Wech­sel­bäl­ge, so der Aber­glau­be, die von bö­sen Wolfs­men­schen ein­ge­schleust wer­den, um den ech­ten Men­schen zu scha­den.

Als die Dorf­äl­tes­ten die Aus­lie­fe­rung von Mei­sis for­dern, setzt sich Skal­de für das Kind ein und kann ei­nen Deal aus­han­deln. Mei­sis darf blei­ben, so­fern sie in­ner­halb ei­ner Frist be­wei­sen kann, dass sie ein Mensch ist. 

Der «bö­se» Wolf

Für ih­ren Film greift Bösch auf die für Co­ming-of-Age-Er­zäh­lun­gen ty­pi­schen Mus­ter zu­rück: Ein aus­er­wähl­ter jun­ger Mensch lehnt sich ge­gen das Sys­tem auf und kämpft für sei­ne Iden­ti­tät und Wer­te. Tat­säch­lich er­in­nert Skal­de stel­len­wei­se an die im «Dis­trict 12» ja­gen­de Kat­niss Ever­deen aus Ga­ry Ross’ The Hun­ger Games. Deut­lich er­kenn­bar sind zu­dem die kon­se­quent, aber sub­til ein­ge­wo­be­nen Ver­wei­se auf das Mär­chen­haf­te, zum Bei­spiel die Fi­gur des bö­sen Wolfs. Doch an­ders als im Mär­chen ist in Milch­zäh­ne nicht al­les schwarz-weiss und wer oder was hier bö­se ist, ist gar nicht so ein­deu­tig.

Skalde unterwegs (Bild: pd/Filmstil)

Ver­stärkt wird die Mär­chen­ty­po­lo­gie des in ver­schie­de­nen deut­schen Wäl­dern ge­dreh­ten Films durch die ein­dring­li­che Bild­spra­che. Mys­ti­sche Na­tur­auf­nah­men wech­seln sich mit fi­li­gra­nen Nah­auf­nah­men ab: Mensch- und Tier­haa­re im Clo­se-up, dann ein düs­te­rer Kie­fer­wald, in dem ein um­ge­fal­le­ner Baum sei­ne knor­ri­gen Äs­te wie ein Er­trin­ken­der in die Hö­he streckt. 

Die Re­gis­seu­rin spielt mit ar­chai­schen Sym­bo­len und baut fei­ne Dop­pel­deu­tig­kei­ten ein. Ge­ra­de das Was­ser ist ein wie­der­keh­ren­des Mo­tiv: Sei­ne rei­ni­gen­de Wir­kung um­fasst so­wohl Ak­te der Für­sor­ge als auch ri­tu­el­le Ge­walt. Rei­ni­gung kann auch Aus­lö­schung be­deu­ten. In Milch­zäh­ne wa­schen die ei­nen vor­sich­tig den Kör­per des frem­den Kin­des, die an­de­ren schla­gen vor, es zu er­trän­ken. Dass der Wolf sei­nen Tod im Was­ser fin­det, ist ge­ra­de für Mär­chen nicht un­ty­pisch – der Wolf in Rot­käpp­chen wird im Brun­nen er­tränkt. 

Das En­de des Pa­tri­ar­chats?

Es sind die at­mo­sphä­ri­sche Bild­spra­che und die sub­ti­len Re­fe­ren­zen, die Böschs Dra­ma tra­gen. Wäh­rend die sorg­fäl­ti­ge In­sze­nie­rung die­ser Aspek­te über­zeugt, schwä­chelt die Er­zähl­struk­tur des Films. Stel­len­wei­se fehlt der Hin­ter­grund, vie­les bleibt nur an­ge­deu­tet. So er­fährt man zwar aus der Film­be­schrei­bung, dass Skal­de ei­ne schwie­ri­ge Be­zie­hung zu ih­rer Mut­ter hat, im Film selbst ist das aber kaum er­sicht­lich. 

Durch die schwa­che Kon­tex­tua­li­sie­rung ist die Hand­lung der Fi­gu­ren nicht im­mer ganz nach­voll­zieh­bar, wes­halb es schwer­fällt, sich in sie ein­zu­füh­len. So bild­ge­wal­tig der Film auch in­sze­niert ist, er ent­wi­ckelt kaum er­zäh­le­ri­sche Sog­wir­kung. Und als die Ka­ta­stro­phe, die sich von An­fang an ab­zeich­net, ein­tritt, bleibt man merk­wür­dig un­be­rührt.

Auch das für die Re­gis­seu­rin so zen­tra­le Auf­be­geh­ren ge­gen das Pa­tri­ar­chat wirkt im Film skiz­zen­haft, so­dass man sich fragt, ob Milch­zäh­ne wirk­lich «ein Mär­chen über das En­de des Pa­tri­ar­chats» ist, wie Bösch im Re­gie­wort schreibt. Denn das Pa­tri­ar­chat en­det ja ei­gent­lich gar nicht … 

Milch­zäh­ne: 3. Ju­li, 20.15 Uhr, Ki­no Ca­meo, Win­ter­thur, wei­te­re Da­ten im Ju­li.
sai­ten.ch/ka­len­der