, 16. Januar 2022
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Das Schönste statt das Schlimmste

Unser Leben ist voll von Meldungen, wie scheisse es Queers geht, und weniger voll mit Queers, die einfach glücklich ihr Leben leben. Das nervt, findet unsere Kolumnistin Anna Rosenwasser.

Wir waren in einem hippen städtischen Kino, die drei KV-Klassen und ich. Gerade war ein Film über eine jugendliche brasilianische Skaterin zu Ende gegangen (My Name is Baghdad), die mit traditionellen Frauenrollen bricht. Meine Aufgabe war es nun, in der Nachbesprechung des Filmes eine halbe Stunde Fragen zu LGBT zu beantworten.

Vor Schulklassen zu sprechen, macht mich nervöser als jeder Bühnenauftritt und unruhiger als jede Fernsehkamera. Wenn ich vor jugendlichen Menschen auftrete – spezifisch vor solchen, die bisher durchschnittlich bescheiden mit queeren Themen in Verbindung kamen –, ist die Atmosphäre eine Mischung aus Voyeurismus, Abwertung und Fetischisierung. Und unruhig. Zu aufmerksam, zu neugierig zu sein beim Thema LGBT, das wär ja nah an Akzeptanz, und Akzeptanz von queeren Menschen, klar, das ist voll schwul.

Anna Rosenwasser, 1990, wohnt in Zürich und ist freischaffende Journalistin. (Illustration: Lukas Schneeberger)

Ich steh also vor Kinosesselreihen voller unruhiger Jugendlicher und beantworte die Frage, die meistens als Erstes kommt: «Wie war Ihr Coming-Out bei Ihren Eltern?» Man könnte nun die Frage aufwerfen, ob es nicht um allgemeinere Themen gehen sollte: Was bedeutet die Ehe für alle für die Schweiz? Welche politischen Anliegen stehen noch an? Diese Fragen werden an Schulanlässen wie diesem auch gestellt – von den Lehrpersonen. Die Schüler:innen hingegen fragen mitten ins Herz rein.

Meistens sehe ich sie im Publikum sitzen, die queer kids dieser Schulklassen, bis zu drei bis vier Menschen pro Klasse halten Augenkontakt mit mir, bedanken sich danach bilateral leise oder via Instagram bei mir, mit Regenbogenbuttons an der Jacke und in der Insta-Bio.

Wenn diese bis zu 20 Prozent der Schulklassen sich sicher genug fühlen würden, um sich nicht nur zu outen, sondern auch uneingeschränkt sie selbst zu sein, wäre die Neugierde auf Coming-Out-Stories wohl weniger stark. Es wäre weniger unruhig. Aber: Ich will auch Unruhe reinbringen. Die meisten der 60 Menschen im Kino sind hör- und sichtbar irritiert, als ich sage, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, und fragen nach, immer wieder.

Als mir eine Lehrperson zu verstehen gibt, dass wir bei der letzten Frage angekommen sind, streckt eine schüchterne junge Frau auf, die sich bisher noch nicht gemeldet hat. «Was war das Schlimmste, das Ihnen bisher passiert ist?»

Auch das kommt oft. Voyeuristische Fragen nach queerem Elend. Weil es die Erwachsenen vormachen. Die Frage höre ich häufiger von Journalist:innen als von Schüler:innen. Unser Leben ist voll von Meldungen, wie scheisse es Queers geht, und weniger voll mit Queers, die einfach glücklich ihr Leben leben. LGBT, das sind Homos; Homos, das sind Schwule; Schwule, das sind die, die an AIDS sterben.

An der Frage ist also potenziell vieles verkehrt, und entsprechend antworte ich umgekehrt. Ich sage strahlend, dass ich als letzte Antwort lieber erzählen will, was das Schönste daran ist, queer zu sein. Ich schildere die fröhlichen Menschenmengen an den Pride-Demos, dieses Gefühl, nie mehr allein sein zu müssen. Das Wissen, eine Zukunft zu haben, eine schöne, lebendige Zukunft, in der man sich selbst sein kann.

Das heisst nicht, dass ich vor Schulklassen nicht auch über den Gegenwind, ja die Gewitterstürme rede, gegen die die LGBT-Community kämpfen muss. Es heisst nur, dass ich mit einem Regenbogen abschliesse.

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