, 14. März 2022
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Das Ticken einer Zeitbombe

Tick Tack ist ein Roman, der schwindlig macht zwischen Entsetzen, Verunsicherung und dem Schmerz darüber, der Hölle ein Stück näher gekommen zu sein. Autorin Julia von Lucadou liest am Wortlaut-Festival Ende März in St.Gallen. Von Gallus Frei-Tomic

Digitale Literatur schreibt sich das diesjährige Wortlaut-Festival als einen Schwerpunkt auf die Fahne. Dazu passt Tick Tack perfekt.

Almette ist 15, hochbegabt, mit dem Gefühl, der Welt, in die sie hineingeboren wurde, alles andere als zugehörig zu sein. Nach einer Aktion, die als Suizidversuch gewertet wird, sitzt sie einer Psychologin gegenüber, für ihre Mutter die einzige Möglichkeit, die «Sache» an den Nagel hängen zu können. Mette selbst hatte die Aktion in den Sozialen Medien inszeniert, weil der Konsum solcher Videos jenes Prickeln verursacht, das einem beweist, dass man lebt.

Almette fühlt sich nicht nur der Psychologin überlegen. Alles, was sie sieht, ist die permanente Bestätigung dessen, dass die Welt ihr nicht gewachsen ist. Eigentlich will Mette nichts mehr, als sich aus dem ganzen Theater auszuklinken. Einzige Vertraute ist Yağmur, ihre Freundin mit türkischen Wurzeln, Tochter eines Ärzteehepaars, das kaum je zuhause ist. Auch sie eine intellektuelle Überfliegerin, wenn auch nicht derart zur Kompromisslosigkeit bereit, wie Mette, die mit 15 nichts mehr will, als aus dem Dunstkreis ihrer Bemutterung und dem aufgesetzten Feminismus ihres Vaters zu entfliehen.

Alles schreit nach Bestätigung im Netz

Almette ist das Opfer einer entstellten Gegenwart, die ihr Sein nur noch auf Bildschirmen und Displays gespiegelt sieht, die in «Existenzängste» gerät, wenn sie «die Natur zu radikal an sich heranlässt». Almette und Yağmur wollen nicht weniger, als die Macht jenen entreissen, die das «Schicksal der Menschheit in den Händen von geriatrischen, testosterongesteuerten, geldgierigen CEOs lassen». Almette führt gar ein Fake-Tagebuch, um darin eine alternative Storyline ihres Lebens zu ziehen, für den hundertprozentigen Fall, dass ihre Eltern es lesen und glauben, was sie lesen.

Alles, was Almette tut, schreit nach Bestätigung im Netz, nach Follower:innen. Die Resonanz im Netz spiegelt ihre Existenz. Almette ist die Verkörperung dessen, was passiert, wenn individualisierter Hochmut und selbst befeuerte Arroganz die einzigen Waffen werden, um gegen den Strom anzukämpfen, den letzten Rest Selbstwahrnehmung zu retten.

Julia von Lucadou.

Dann lernt Almette Jo kennen, den älteren Bruder von Mia aus ihrer Klasse. Almette bestimmt Mia zu ihrer Musterfreundin, aber wieder nur, um falsche Fährten zu legen. Denn fasziniert ist sie von Jo, eigentlich Joshua, zehn Jahre älter als sie. Er liegt in seinem ehemaligen Kinderzimmer, von seinem «Muttertier» umsorgt, weigert sich, an dem teilzunehmen, was sich vor seiner Tür abspielt.

Jo ist exmatrikuliert, was aus der Sicht seines Muttertiers nur ein grosses Missverständnis sein kann. Einer, der auch mit Unverpacktläden und Lastfahrrädern nicht an ein Überleben der Spezies glaubt. Für Jo ist die Menschheit verloren, einziger Ausweg; der Massensuizid. Dafür will er all das, was in den Sozialen Medien kocht, zu seinen Gunsten nutzen, nicht zuletzt das Inszeniertalent der Freundin seiner kleinen Schwester.

Die Lunte brennt

Jo und Mette freunden sich an. Wobei bis fast zum Schluss des Buches nicht klar ist, ob diese Freundschaft Mittel zum Zweck ist oder die sanfte Annäherung zweier Fremdkörper, die sich von der Gravitation verabschiedet haben. Beide sind der Überzeugung, sich der grossen Lüge entziehen zu müssen. Und als Corona all jenen in die Hände spielt, die schon immer ahnten, dass im Verborgenen die unsichtbaren Fäden gezogen werden, wird es der Kampf gegen all die Lemminge, die fremdgesteuert gegen den Abgrund rennen. Jo wird Mettes Priester, Mette Jos Messias, der die Botschaft in die Welt bringen soll, den grossen Knall. Jo hat seine Lunte gefunden. Mette brennt lichterloh.

Julia von Lucadou: Tick Tack, Hanser Berlin, 2022, Fr. 33.90

Lesung am Wortlaut Festival: 27. März, 12 Uhr, Stadthaus St.Gallen

wortlaut.ch

In den 1970ern und 80ern war die Hippiebewegung der Kampf gegen das Establishment, das Spiessbürgertum, gegen Konvention und Verknöcherung. Auch Jo und Mette wollen, dass kein Stein auf dem andern bleibt. Ihr Kampf richtet sich gegen die Welt ihrer Eltern.

Julia von Lucadou erzählt in zwei ineinander verwobenen Strängen: aus der Sicht der 15-jährigen Mette, die den Kampf der jungen Frau schmerzhaft nachvollziehbar macht, und aus der nur schwer durchschaubaren Sicht von Jo. Dieser suhlt sich wie ein Hikikomori im Zimmer seiner Kindheit, um von dort den Flächenbrand zu zünden. Tick Tack ist von einer sprachlos machenden Unmittelbarkeit, als wäre die Autorin mit dem Stoff unmittelbar der zähen Suppe der Pandemie entstiegen.

Nach dem ersten Lockdown fragte mich einmal ein Schriftsteller: «Worüber schreiben, wenn sich alles versteckt.» Warum nicht so wie Julia von Lucadou – und die Hand mitten ins Feuer halten!

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