, 16. September 2021
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Demokratie umbauen

Gesucht für die Grossbaustelle: visionäre Vorarbeiter:innen, pragmatische Fachleute und möglichst viele engagierte Büezer:innen. Das lose Protokoll der Diskussionsrunde am Freiluftparlament «Mobile» vom Mittwochabend am St.Galler Marktplatz.

«Wer nimmt am Quartierleben teil?», «Wie kann ich mit Schweizer:innen in Kontakt kommen?», «Warum sind unsere Diplome hier nicht gültig?», «Warum ist Kinderbetreuung so teuer?», «Warum sind viele Hilfsangebote nicht auf Portugiesisch verfügbar?», «Wie kann ich meinen Aufenthalt legalisieren?», «Wo können wir uns treffen, miteinander kochen und Deutsch lernen?»

Das sind nur einige der vielen Fragen, die die St.Galler Quartiere bewegen. Gesammelt wurden sie diesen Sommer über im Rahmen des Projekts «Mobile. Das Freiluftparlament», das an verschiedenen Orten in St.Gallen Halt machte. Mit farbigen Sitzwürfeln, Diskussionsrunden und einer Fragewand für Themensammlungen und Projektideen stiftete «Mobile» die Quartierbewohner:innen zum Mittun und Netzwerken an.

Der Antrieb dahinter: Fragen ans Zusammenleben und an städtische Räume stellen, zuhören, verhandeln, austarieren – wie ein Mobile im Wind eben. Und das nicht in den Amtsstuben und Parlamenten, die wenig repräsentativ sind für die Vielfalt der Bevölkerung, sondern dort, wo sich deren Entscheide auswirken; in St.Fiden, im Linsebühl und im Lachen-Quartier.

Als nächstes besucht «Mobile. Das Freiluftparlament» Wil:

17. September, 11 bis 16 Uhr: Quartiertreff Lindenhof

18. September: 14 bis 18 Uhr: Reuttistrasse

29. September, 14 bis 18 Uhr: Zeughausareal Wil

freiluftparlament.ch

Wir feiern: den ersten Internationalen Tag der Demokratie

Zum vorläufigen Abschluss dieser Reihe – und zur Feier des ersten «Internationalen Tages der Demokratie» – traf sich das Freiluftparlament am Mittwochabend nochmal in der St.Galler Innenstadt. Dazu eingeladen hatten auch das «Kollektiv Ostwind», ein loses Kollektiv von Menschen mit Migrationsvorsprung, sowie das Amt für Gesellschaftsfragen.

Dutzende farbige Sitzwürfel, eine grosse Fragewand und viele interessierte Passant:innen in der Marktgasse – das hätte ein freudiges Gewimmel ergeben. Und viele Diskussionen über gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe. Doch es goss in Strömen, und so blieb die Gruppe eher klein, diskutierte aber trotz allem angeregt unter einem grossen gelben Zelt. Und erhielt irgendwann doch noch spontanen Zuwachs, wenn auch weniger als erhofft.

Schnell war klar: Die grosse Fragebaustelle – Wie demokratisieren wir die Demokratie? – braucht dringend mehr Arbeitskräfte. Gesucht sind visionäre Vorarbeiterinnen, pragmatische Fachleute und möglichst viele engagierte Büezer:innen, egal ob voll- oder teilzeit. Sonst kommt das Jahrhundertprojekt nie vorwärts und scheitert schon an den Nebenbauplätzen.

Wer ist «Wir»? Und warum darf Fajaz nicht einfach Velomech sein?

Hier einige offene Punkte und Fragen aus der Mobile-Bausitzung am St.Galler Marktplatz, wo nebst den Fachleuten aus Wissenschaft und Behörden auch Vorarbeiter:innen aus Kultur und Politik sowie diverse Büezer:innen aus der Zivilgesellschaft anwesend waren:

  • Zwei Kinder kommen in der Schweiz zur Welt, machen dieselbe Ausbildung, zahlen gleich viel Steuern, aber mit 18 darf nur eines davon abstimmen. Warum? Weil das andere die 5000 Franken für die Einbürgerung nicht aufbringen kann. Oder nie die vorgeschriebene Anzahl Jahre in der gleichen Gemeinde gelebt hat.
  • Warum wird überhaupt so viel Aufhebens um diesen ominösen roten Pass gemacht? Wer ist dagegen, dass auch Menschen ohne Schweizer Bürger:innenrecht politisch teilhaben können und wieso? Und wie holt man diese Leute ins Baustellen-Team? Geht das überhaupt? Wann kommt die City-Card für St.Gallen?
  • Rechte zu haben ist das eine, sie auch wahrzunehmen das andere. Zum Beispiel das neue St.Galler Partizipationsreglement, das einen Bevölkerungsvorstoss beinhaltet: Läppische 15 Unterschriften braucht es dafür, man muss nur in St.Gallen wohnen und älter als 13 sein. Warum ist das nicht bekannter? Warum wird es noch so zögerlich genutzt? Ihr wollt eine Skate-Halle? Macht einen Vorstoss! Ihr wünscht euch eine Küche für alle im Quartier? Versucht es mit der Petition! Hier gehts zum Formular.
  • Dieser Baustellenabschnitt wäre möglicherweise schneller zu bewältigen, wenn es den Bevölkerungsvorstoss auch auf Portugiesisch oder Türkisch gäbe. Und in Einfacher Sprache. Allgemein müsste die Kommunikation seitens der Behörden besser übersetzt sein – sprachlich und inhaltlich.
  • Unabhängig davon sollte man Teilhabe nicht aufs Politische reduzieren. Der Diskurs über Zugehörigkeit ist vielschichtiger. Was heisst «Willkommenskultur»? Wer ist Wir? Wie gehen wir mit Unsicherheit um? Was gibt uns und anderen das Gefühl, dazuzugehören? Warum haben Menschen ohne Arbeit in der Schweiz das Gefühl, nicht dazuzugehören?
  • Und trotzdem: Warum darf Fajaz, 18, aus Afghanistan keine Lehre als Velomech machen, «obwohl er doch so ein Feiner ist und obendrein ‹ein toller kultureller Übersetzer› wäre»?
  • Die andere Frage ist: Warum muss er als «kultureller Übersetzer» fungieren? Nur weil er aus Afghanistan ist? Warum erwarten wir von Menschen mit Migrationsvorsprung stets dieses Extra-Engagement? Darf Fajaz nicht einfach als Velomech arbeiten und abends eine Runde gamen?
  • Engagement – vor allem ehrenamtliches – hängt auch von der Zeit ab, unabhängig von der Herkunft einer Person. Muss man sich leisten können. Statt von Freiwilligenarbeit sollten wir deshalb von unbezahlter Arbeit reden.

 

Von Handlungsspielräumen im Alltag bis zu den politischen Aufgaben wurde am Mittwoch fast alles diskutiert. Bedauerlich war, dass die Leute aus den Quartieren, die die eingangs erwähnten Fragen und Wünsche formuliert haben, nicht dabei waren. Mag dem Wetter oder der Uhrzeit geschuldet sein. Trotzdem wäre die Baugrube mit ihren Inputs wohl noch einmal tiefer geworden.

Wenig erbaulich auch die Bemerkungen aus Behörden und Politik, sinngemäss: «Wir wollen ja, aber der Sparwahnsinn verhindert alles. Geld ist immer die Killerfrage.»

Gut drum, dass die «Grossbaustelle Demokratie» nicht nur davon abhängt, sondern aus vielen Teilprojekten besteht. Dass wir die farbigen Würfel drehen und wenden und immer wieder neu zusammensetzen können, wie im Freiluftparlament. Und an allen Enden mit dem Umbau beginnen können.

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