, 22. Juni 2020
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Der arme Ammann im Tockenburg

Der St.Galler Sklavereiforscher und Kabarettist Hans Fässler schreibt eine Biografie über Simon Ammann – obwohl ihn Skispringen nicht interessiere. Am Mittwoch ist die (ausverkaufte) Erstlesung in der St.Galler Kellerbühne.

Um sein Kernthema Sklavereigeschichte und Rassismus kommt Hans Fässler auch in seinem neuen Buchprojekt nicht ganz herum – denn immerhin: Die Helvetia-Versicherung, Hauptsponsor von Simon Ammann, «wurde von einem Mann gegründet, der in Brasilien afrikanische Sklaven besass, Sklaven mietete, Sklaven eigenhändig auspeitschte und schwarze Menschen allgemein verachtete».

Und, zweiter Link, diesmal zur rassistischen Gegenwart: Im Toggenburg, in Simi-Land fand 2016 das ominöse Konzert von Neonazi-Bands statt, mit mehreren tausend Besuchern und ohne dass die Polizei eingriff. Der Anlass in Unterwasser hat politische Folgen: Im Kantonsrat ist ein Gesetz pendent, das solche extremistischen Anlässe verhindern soll.

Heldenverehrung und Stürze

Fässler wäre nicht Fässler, wenn ihn an einem zwar vordergründig unpolitischen Thema nicht auch die gesellschaftlichen und historischen Hinter- und Nebengeschichten reizen würden. Der erste Satz des Vorworts heisst: «Weder Skispringen noch Skifliegen haben mich je interessiert.»

Was ihn aber interessiere, sei die Frage, warum man sich mit Sportskanonen identifiziert, was überhaupt diese Sport-Leidenschaft ausmacht, und wie ein junger Mann wie Simon Ammann in die «unbarmherzige Welt des Spitzensports und die nicht minder unbarmherzige Werbe-, Sponsoring- und Medien-Industrie hineingerät». Schliesslich die Frage: «ob es nicht auch in meinem Leben (und demjenigen der Leserin und des Lesers) einen Carbonschuh gibt, also ein Objekt oder ein Projekt oder einen Traum, an welchem unsere existentiellen Hoffnungen hängen».

Den Fragen will Fässler im Buch, falls es denn eins wird, in 14 Kapiteln nachgehen. Sie drehen sich gemäss Vorauszitaten um die Herkunft des «armen Ammann im Tockenburg», um die Technik des Skifliegens, um Stürze und Siegesfeiern, um Tüfteleien und Todesangst, um das Toggenburg oder um Schindellegi im Kanton Schwyz, wo Ammann seit 2008 lebt: «die bekannteste Steuervermeidungslandschaft der Schweiz».

Die Schanze von Planica in Slowenien, wo Simon Ammann 2010 Skiflug-Weltmeister wurde.

Und was hat Fässler bei seinen Recherchen herausgefunden?

Über das Toggenburg sagt er: «eine komplizierte Geschichte». Als Nicht-Toggenburger, aber häufiger Gast seien ihm das Tal und seine Bewohnerinnen und Bewohner sowohl lieb als auch fremd – fremd insbesondere dadurch, dass hier «seit Jahrzehnten mehrheitlich jene Partei gewählt wird, die von Multimillionären geführt wird, keine Fremden will und keine Mindestlöhne und welcher die natürliche Umwelt ziemlich egal ist». Auch der groteske Bergbahnenstreit könnte im Buch vorkommen, «eine Geschichte zwischen Trauerspiel und Komödie». Er wolle das Toggenburg aber nicht «in die Pfanne hauen» und Simi schon gar nicht.

Über das Heldentum lautet Fässlers These: Die einfachen Dinge sind es, an die wir uns klammern – ob einer zum Beispiel 240 oder 250 Meter weit fliegen könne. Dass die Sache auch hier komplexer ist, weiss man aus den Schispringerliedern von Christoph und Lollo. Fässler hat kurzerhand ein neues gedichtet:

Ist er Harry Potter oder Simon Ammann?
Ist er bald am Ende oder fängt er nochmals an?
Ist er Clown und Lausbub oder tragische Figur? –
Er ist so wie Boby Dylan: auf Never Ending Thur.

Simon Ammann, fliegend. (Bild: Swiss Ski)

Ein weiteres Thema ist für Fässler die Sprache, in der über Spitzensport gesprochen wird – «in den 1990er-Jahren begannen Sportler so zu reden wie Management-Entwickler. Oder umgekehrt», heisst es im Buch einmal.

Und die Sklaverei-Vergangenheit des Gründers von «Kopfsponsor» Helvetia gibt Fässler schliesslich einen perfekten Absprungpunkt, um auf die modernen sklaverei-ähnlichen Verhältnisse im Spitzensport-Business zu kommen. Bleibt der Carbonschuh – Ammanns Erfindung, mit der er 2018 Furore machen wollte. Er gibt dem Buch den Titel und dem Skiflieger (vielleicht) Halt.

Ein Ammann-Verlag für Ammann?

Über Verlag, Erscheinungsdatum etc. der nicht-autorisierten ersten Biografie über Simon Ammann gibt Fässler – entgegen seiner sonstigen Neigung zu harten Fakten – nur vage Auskunft. Das Manuskript sei mehr oder weniger fertig, die Vierschanzentournee wolle er aber noch abwarten. 2021 also vielleicht. Einen Ammann-Verlag, der laut Fässler-Ankündigung das Ammann-Buch herausbringen soll, gab es zwar – aber nur bis 2010, als ihn sein Gründer Egon Ammann auflöste.

Hans Fässler: Nicht ohne meinen Carbonschuh. Eine Toggenburger Passion: Mittwoch, 24. Juni, 20 Uhr, Kellerbühne St.Gallen (ausverkauft)

kellerbuehne.ch

Auch einen Auszug aus einer fiktiven Buchrezension legt der Autor bereits vor, angeblich aus dem «Tagblatt» vom 21. Juli 2020, unter anderem mit den Sätzen: «Ernest Hemingway und der Torero Antonio Ordonez, Niklaus Meienberg und der Autorennfahrer Jo Siffert, Norman Mailer und der Boxer Muhammad Ali, Daniel Ryser und der Journalist Roger Köppel – schreibende Saftwurzeln, welche der Faszination des Tanzes ihrer männlichen Helden mit Gefahr, Tod und links-liberalem Mainstream zu erliegen drohen? Und jetzt noch Hans Fässler über den Skispringer Simon Ammann? Hat da jemand ‚Homosozialität‘ gerufen? Ich kann Entwarnung geben: Fässler ist erstens alles andere als eine Saftwurzel, und zweitens eignet sich der schmächtige, eigentlich schüchterne und manchmal fast feminin wirkende Ammann nicht für diese Art von Projektion.»

Jetzt muss es nur noch das Buch zur Besprechung geben. Sicher ist: Eine Anzahl Lesungen steht bereits fest. Die erste, bereits ausverkaufte findet diesen Mittwoch in der St.Galler Kellerbühne statt, eine weitere am 11. September im Baradies Teufen. Und auch das Toggenburg soll an die Reihe kommen.

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