, 2. Dezember 2016
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Der Drang nach Mehr

Peter Gross erhält heute den grossen Kulturpreis der St.Gallischen Kulturstiftung. Seine «Multioptionsgesellschaft» ist das Buch einer Generation – einer gerade verschwindenden.

Multioptionsgesellschaft: Der Buchtitel hat den langjährigen HSG-Soziologen Peter Gross berühmt gemacht. Mit gutem Recht, denn er beschreibt unsere Lage mit aller nötigen Präzision. «Was im Titel schwach aufleuchtet, ist ein tief in die modernen Gesellschaften eingemeisselter und ins Herz des modernen Menschen implantierter Wille zur Steigerung, zum Vorwärts, zum Mehr. Auf dem Drang nach Mehr gründet die Moderne», schreibt Gross im Vorwort. Was die Gegenwart präge, sei «die endlose und kompetitive Ausfaltung neuer Möglichkeiten» in der Waren- ebenso wie in der Geisteswelt.

Gross diagnostiziert diesen «Drang nach Mehr» in seinem 1994 erschienenen Buch quer und längs durch alle Lebensbereiche. Er findet ihn vor und hinter den Regalen der Kaufhäuser, in Erlebniswelten und Lebensentwürfen aller Art, beim «multioptionalen» Kindermachen und -kriegen ebenso wie in den scheinbar schrankenlosen technologischen Beschleunigungen.

Das ist auf der einen Seite, folgt man Gross, ein Riesenglück. Die individuellen Selbstentfaltungsangebote sind ohne Zahl, die Wahlfreiheiten inklusive Fluchtmöglichkeiten, Variationen von Lebenswegen, Brüche mit Traditionen, Neuanfänge: All dies ist im gewaltigen, aufbruchsseligen «Vorwärts» dieser Moderne mit enthalten.

Unter Dauerdruck

Die Kehrseiten des «anything goes» blendet Gross aber ebenso wenig aus. Sie haben sich seit Erscheinen des Buchs akzentuiert.

Kulturpreisverleihung an Peter Gross: Freitag, 2. Dezember, 18.30 Uhr, Lokremise St.Gallen, mit Laudatio von Gottlieb F. Höpli und Musik von Vera Kappeler.

Auf der einen Seite ist das «Mehr» begleitet von einem vielstimmigen «Weniger»: «Verlust der Herkunft», «Abbau innerer Zäsuren», «Entheiligung», «Entzauberung», «Enthierarchisierung» und weitere vergleichbare «Ent»-Stichworte umschreiben die  gesellschaftlichen wie individuellen Haltlosigkeit, die eine weit verbreitete Folge der allumfassenden Entgrenzungen sind. «Optionierung» geht einher mit «Entobligationierung», etwas weniger wortmonströs gesagt: Wer alles darf und gesellschaftlich dürfen soll, verliert die Orientierung an gemeingültigen Werten oder auch Verboten.

Auf der anderen Seite steigt der Druck. Über die «denkmöglichen Wirklichkeiten», die uns namentlich in den Medien vermittelt werden, schreibt Gross: «Man hat das Gefühl, nie aufhören zu können, und steht unter Druck, die täglich hereinströmenden Nachrichten zu verarbeiten, alles zu verarbeiten, umzuformen, zu verwerfen oder neu zu konstruieren. Man hat Angst, den Anschluss ans Weltgeschehen zu verpassen, nicht mehr mithalten zu können. Man gerät selber unter Realisierungsdruck.» Und in einem der für den Autor typischen bildhaften Vergleiche geht es weiter: «Die Bibliothek wird unablässig umgeräumt, die Ablagen quellen (wie die Welt) über von Hinweisen, Ausschnitten, Exzerpten, Alarmen, Marschbefehlen.»

Wie leben mit den Differenzen?

Soweit die Analyse – die Frage ist, ob sich der Soziologe seinerseits die Freiheit nehmen darf, seine Schlüsse daraus zu ziehen. Gross tut es in einem ausführlichen Fazit unter dem Titel «Was tun?»

Verzichten? Die Forderung danach treffe in aller Regel die schwächsten und bereits mittellosen Glieder der Gesellschaft, kritisiert Gross. Und laufe unter der Hand auf eine «Beschränkung der Teilhabe an den gesellschaftlich eröffneten Wahl- und Handlungsmöglichkeiten» hinaus. Das Projekt Moderne dürfe nicht um das Teilprojekt «Teilhabe» gekürzt werden. Und ebenso wenig könne es um Denkverbote gehen oder im Extremfall, wie Gross den Kulturphilosophen Arnold Gehlen zitiert, darum, «beim Wissenwollen, dem Anfangspunkt, oder beim Konsumierenwollen, dem Endpunkt des Prozesses» einzuhaken.

Stattdessen diskutiert Gross als Perspektive, was er «Differenzakzeptanz» nennt. Könnte es mit dieser Haltung gelingen, den «Weltkrieg der Erwartungen zu dämpfen, die Modernisierung zu bändigen?» Und wie könnte sie praktiziert werden, ohne kulturrelativistisch alles gutzuheissen, auch wenn es den eigenen Werten, den universellen Menschenrechten, den ethischen Minimalanforderungen widerspricht? Der Autor bleibt skeptisch, was die sich zuspitzenden Differenzen (zwischen Süd und Nord, zwischen Teilhabenden und Ausgeschlossenen, zwischen Ressourcenschonung und Ressourcenzerstörung) betrifft. Vielleicht werde jedoch eine künftige Generation eine neue «adäquate Beziehung zum Gegebenen» finden und «Rüstzeug und Rüstung für den Vorwärtskampf verweigern». Vielleicht werde sie herausfinden, was zu tun ist, «dass man nicht stehenbleiben und die Entwicklungsmöglichkeiten nicht abbrechen muss und gleichwohl die entfesselte zivilisatorische Dynamik dämpft».

Prof Dr. Peter Gross Aufnahme : Regina KŸhne

Grenzen zu statt Grenzen auf

Gross’ Multioptionsgesellschaft ist noch immer frappierend aktuell. Zugleich gibt aber auch zu denken, wie viel an Zukunftsoptimismus sich in der kurzen Zeit seit ihrem Erscheinen in sein Gegenteil verkehrt hat. «In einer nie dagewesenen Weise erscheint die Zukunft offen», scheibt Gross einleitend. «Immer mehr Grenzen werden fallen, immer mehr Länder werden zu Fussnoten der Geschichte.» Und weiter: «Die offene Gesellschaft, für die noch vor wenigen Jahrzehnten erbittert gekämpft werden musst, hat keine Feinde mehr, sondern ist mitten unter uns. Der Rhythmus von Öffnung und Schliessung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen ist einer weltweit akzeptierten, monotonen Steigerungsprogrammatik gewichen.»

Zwanzig Jahre später liest sich diese Feier der offenen Gesellschaft als Botschaft aus einer vergangenen Zeit – rundum werden neue Zäune errichtet, nehmen die Verteil- und die Ideologiekämpfe zu, wächst die Angst vor neuen Kriegen.

«Vierundzwanzig Stunden am Tag herrscht eine Atmosphäre des Zapfenstreichs», schreibt Gross einmal. Heute herrscht vielerorts das gegenteilige Gefühl vor: Die Party sei schon wieder zu Ende.

Bücher (Auswahl): Die Multioptionsgesellschaft, Suhrkamp Verlag 1994; Ich-Jagd. Im Unabhängigkeitsjahrhundert, Suhrkamp Verlag 1999; Jenseits der Erlösung, Transcript Verlag 2008; Glücksfall Alter (mit Karin Fagetti), Herder Verlag 2013; Ich muss sterben, Herder Verlag 2015

Bilder: petergross.ch

 

 

 

 

 

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