, 31. März 2020
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Der fast vergessene Flüchtlingshelfer

Mehrere zehntausend ungarische Juden verdankten ihm ihr Überleben in dem von den Nazis besetzten Budapest. Carl Lutz ist dennoch nur wenigen bekannt. Ein eindrückliches Videobook erinnert an den in Walzenhausen aufgewachsenen Diplomaten und Judenretter.

Carl Lutz 1945 in der ausgebombten britischen Botschaft in Budapest. (Bild: © Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich / Agnes Hirschi: NL Carl Lutz 272)

Das Schicksal erinnert an jenes des St.Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger: Auch ihm blieb, wie Carl Lutz, zu Lebzeiten die Anerkennung als Judenretter versagt. Erst 1995, zwanzig Jahre nach seinem Tod, wird Carl Lutz zusammen mit Grüninger von Parlament und Bundesrat offiziell «rehabilitiert».

Während Grüninger dank der Arbeit der Grüninger-Stiftung, der Vergabe des nach ihm benannten Preises für Menschenrechte, dank Filmen und Theaterstücken lebhaft in Erinnerung ist, ist Lutz hingegen vielen Menschen weiterhin kaum ein Begriff.

Er selber beklagte dies in einem Interview im hohen Alter. Schon 1945, nach der Rückkehr in die Schweiz kurz vor Kriegsende, habe sich niemand von den Behörden bemüssigt gefühlt, ihm zu danken. «Der Gruss der Heimat war: Haben Sie etwas zu verzollen?» Auch später habe ihm kein Bundesrat je die Hand gereicht.

Mit dem frei zugänglichen Videobook, das zum gestrigen 125. Geburtstag von Carl Lutz online publiziert worden ist, leistet die Carl Lutz Gesellschaft nun einen gewichtigen Beitrag dazu, sein Wirken ins Bewusstsein zurückzuholen.

Von Walzenhausen in die USA und nach Palästina

Humanitäre Grosstaten waren dem als schüchtern beschriebenen Carl Lutz nicht in die Wiege gelegt. Als eines von zehn Kindern in einer streng pietistischen Familie in Walzenhausen aufgewachsen, früh mit Armut konfrontiert, sucht Lutz mit 18 Jahren, ohne ein Wort Englisch zu sprechen, sein Glück in Amerika; er will Pfarrer werden, gibt als unbegabter Redner den Plan jedoch rasch auf, findet eine Aushilfsstelle in der Schweizer Botschaft in Washington, studiert Jura und Geschichte und arbeitet in den USA 16 Jahre lang als Diplomat an wechselnden Orten und mit wechselndem Glück.

1934 wird Lutz, entgegen seinen Hoffnungen, in der Schweiz eine diplomatische Funktion zu bekommen, nach Palästina versetzt. Hier lebt er seine bereits in den USA gepflegte Passion für die Fotografie aus, äussert sich in privaten Notizen vorerst unverhohlen antisemitisch, nimmt dann aber zunehmend Partei für die von antizionistischen Pogromen bedrohte jüdische Bevölkerung. Ab 1939 vertritt Lutz neben der Schweiz auch die deutschen Interessen gegenüber der britischen Besatzungsmacht.

Damit erwirbt er sich die Anerkennung des deutschen Regimes – eine Tatsache, die bei seiner späteren Tätigkeit in Budapest bedeutsam sein wird, wie Lutz in einem Interview hervorhebt: Dank dieser Vorgeschichte habe Eichmann überhaupt erst eingewilligt, mit ihm 1944 in Budapest über ein Kontingent von Juden zu verhandeln, die den Vernichtungslagern entgehen sollten.

Die Idee mit den Schutzbriefen

1942 kommt Lutz als Vizekonsul nach Budapest und vertritt als Chef der Abteilung für Fremde Interessen in der Schweizer Gesandtschaft ein Dutzend kriegsführender Länder, darunter die USA und Grossbritannien. Budapest zählt zu dieser Zeit die grösste noch intakte jüdische Gemeinschaft Europas, rund 800’000 Personen, und ist Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden aus den umgebenden, von Nazideutschland besetzten Ländern.

«Wir dachten damals, wir würden nochmal davonkommen», sagt der ungarische Historiker Ivan Sandor in einem von zahlreichen ins Videobook eingefügten Interviews von Zeitzeugen. Das ändert sich schlagartig, als die Deutschen am 19. März 1944 Ungarn erobern und sofort mit dem Transport der jüdischen Bevölkerung nach Auschwitz beginnen. Zwei Tage später trifft Adolf Eichmann ein und «organisiert» die Vernichtungsaktion. Innerhalb weniger Wochen werden 437’402 jüdische Frauen, Männer und Kinder deportiert.

Warteschlange vor dem «Glashaus» in Budapest, wo die Schutzbriefe ausgegeben wurden. (Bild: © Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich / Agnes Hirschi: NL Carl Lutz 280)

Lutz reagiert. Er reaktiviert das von den Nazis geschlossene «Amt für Palästina» und dessen bisher ungenutzte Ausreisezertifikate. In Verhandlungen mit Eichmann gelingt es ihm, für 8000 Personen die Zusage zur Rettung zu erhalten. Eine «lebensgefährliche Begegnung» nennt es Lutz später. Unter anderem habe er Eichmann mit dem Satz vor den Kopf gestossen: «Wenn Sie Jude wären, kämen Sie vielleicht auch zu mir.» Dennoch gelingt der «Deal». Lutz stellt Schutzbriefe aus, vergrössert das vorgesehene Kontingent insgeheim um ein Mehrfaches, mietet leerstehende Gebäude hinzu, unter anderem das «Glashaus», das später zum Fluchtort für 3000 Personen wird.

Er sei «im Lauf der Jahrzehnte in der Schottermaschine des Konsulardienstes anpassungsfähig geworden», heisst es in einer Notiz von Lutz aus dem Jahr 1941. Der Vizekonsul und seine Botschaftsangestellten lavieren zwischen Widerstand und Verhandlungen so geschickt, dass am Ende der «Schlacht um Budapest» über 60’000 jüdische Männer, Frauen und Kinder dem Holocaust entgangen sein werden.

Rüffel statt Rehabilitation

Mit Glück überleben er und seine Familie im Keller der britischen Botschaft auch die Bombardierung Budapest durch die Sowjets. Und dies in einer privaten Ménage à trois mit seiner Frau Gertrud und der jüdischen Ungarin Magda Grausz, in die er sich verliebt hat und die er nach dem Krieg 1950 dann auch heiratet.

Gruppenbild nach der Befreiung aus dem Keller der britischen Botschaft Januar 1945: in der Mitte Carl Lutz, rechts neben ihm Magda Grausz und Agnes. (Bild: © Archiv für Zeitgeschichte ETH Zürich / Agnes Hirschi: NL Carl Lutz 277)

Deren Tochter Agnes Hirschi, Stieftochter von Carl Lutz, die das Kriegsende als Sechsjährige erlebt hat, engagiert sich bis heute an vorderster Stelle dafür, dass das Gedenken an den Flüchtlingshelfer wachbleibt. Lutz erhielt zwar 1965 die Auszeichnung als «Gerechter unter den Völkern» der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und bereits zwei Jahre davor das Ehrenbürgerrecht von Walzenhausen – in der Schweiz fehlt es sonst aber weitgehend an einer Erinnerungskultur für Carl Lutz. Bis zum Lebensende schmerzte ihn, dass er 1945 statt Dank des Staats und der jüdischen Organisationen einen Rüffel wegen Kompetenzüberschreitungen erhielt – inklusive Rechnungen für den Ersatz des Mobiliars, das bei den Bombardierungen Budapests verbrannt war. 1975 starb Carl Lutz verbittert.

Infos und weitere Dokumente:
carl-lutz.ch.

Das Videobook erzählt das Leben von Carl Lutz ergänzt um Hintergrundinformationen zum Holocaust, zur ungarischen Geschichte oder zu Palästina sowie mit zahlreichen Zeitzeugen-Interviews und einem Dokumentarfilm von Daniel von Aarburg über den Schweizer Flüchtlingshelfer.

«Das Besondere am Fall Lutz liegt möglicherweise in der Tatsache, dass sich ein vielleicht recht gewöhnlicher Mensch nach einem ziemlich gewöhnlichen Werdegang plötzlich vor eine ausserordentliche Herausforderung gestellt sieht, diese annimmt, ja geradezu sucht, und dass der Rest seines Lebens dann von dieser Erfahrung geprägt ist.» So hat der Historiker Georg Kreis über Carl Lutz geurteilt.

Das Zitat findet sich einem umfassenden Beitrag in den Appenzellischen Jahrbüchern 2013 über Lutz. Autorin Heidi Eisenhut weist darin allerdings auch darauf hin, dass die humanitäre Grosstat von Budapest keine einsame Heldentat, sondern das Gemeinschaftswerk von vielen gewesen ist, die Lutz zur Seite standen.

1 Kommentar zu Der fast vergessene Flüchtlingshelfer

  • Lieber Peter
    Das freut mich sehr, dass Du Carl Lutz in so grossen Umfang würdigst.
    In aller Bescheidenheit darf ich wohl darauf hinweisen, dass ich die Erinnerung an Carl Lutz in seinem Geburtsort, Walzenhausen, lebendig erhalte:
    1. Weltpremiere der deutschsprachigen Ausstellung «Carl Lutz und das Glashaus» im Sonneblick Walzenhausen
    2. Schweizerische Kinopremiere des Films «Carl Lutz der vergessene Held» in der MZA Walzenhausen
    3. Station Carl Lutz auf den Friedens-Stationen von Walzenhausen nach Heiden.
    4. Enthüllung einer Gedenktafel am Geburtshaus von Carl Lutz am 30.3.2019.
    5. Vermutlich noch dieses Jahr an drei verschiedenen Tagen: «Auf den Spuren von Carl Lutz im Dreiländereck» während eines Tagesausfluges.
    Herzliche Grüsse
    Adrian Keller
    Geschäftsleiter der
    Stiftung Sonneblick Walzenhausen

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