, 23. März 2018
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Der Kalte Krieg: lauwarm

Fichenskandal, Geheimarmee P-26, Kalter Krieg und Big Data: Das Theater St.Gallen bringt einen brisanten Stoff auf die Bühne. Schauspieldirektor Jonas Knecht inszeniert die Uraufführung von «Lugano Paradiso» von Andreas Sauter in allen Sälen der Lokremise, faktenreich und tatenarm.

«Vom Bühnenhimmel fallen Schnipsel. Geschredderte Fichen. Oder sind es Schnipsel der Geschichte? … Oder ist es einfach nur Schnee. Der Blick in eine weite Winterlandschaft.» So heisst die Regieanweisung fast am Schluss des Stücks. In der Lokremise wird sie gesprochen, es fallen keine Schnipsel und auch sonst fällt nichts vom Bühnenhimmel. Aber draussen fängt es an zu schneien, gerade in diesem Moment. Theater ist draussen – drinnen vermisst man es.

Dabei hätten Schneeflocken oder Fichenschnipsel wunderbar in die melancholische Schlussstimmung von «Lugano Paradiso» gepasst. Andreas Sauter und Regisseur Jonas Knecht bringen das politisch kontroverse, die Welt wie die Schweiz erschütternde Riesenthema der Bürger-Überwachung nicht als wütenden Protest auf die Bühne, sondern in einer Haltung der Neugier, des Wissenwollens und des Staunens über das Ausmass und die Naivität zugleich der Volksbespitzelung.

Ein weites Minenfeld

Das Thema, das sich der St.Galler Schauspieldirektor und der in Berlin lebende Theaterautor vorgenommen haben, ist gigantisch, zu gross für einen einzigen Theaterabend. In einem rasenden Zeitraffer spannt sich der Bogen von Bundesrat Etters Aufruf zur Geistigen Landesverteidigung der Dreissigerjahre über Reduitbau, Antikommunismus, Kalten Krieg, Atombewaffnung, Fichenskandal, Geheimarmee P-26, Rüstungsgeschäfte, Deals mit der DDR, Mauerfall und Zusammenbruch der Sowjetunion bis zum heutigen «gläsernen» Bürger.

Autor Sauter hat sich blendend informiert, hat Quellen studiert (die Literaturliste im Buch zum Stück, welches am Samstag in der Lokremise vorgestellt wird, umfasst allein mehrere Seiten) und diverse Zeitzeugen befragt. Das Ergebnis ist eine fundierte Seminararbeit zum Kalten Krieg, eine faktenreiche Recherche – aber noch kein Theaterstück. Und so bleibt es auch in der Inszenierung von Jonas Knecht weitgehend: eine Mischung aus Referat und Hörspiel mit szenischen Eingriffen, die allzu rar bleiben und die Möglichkeiten, welche das 13köpfige Ensemble aus Schauspielerinnen, Tänzern und Musikern bieten würde, nur erahnen lassen.

Hermann (Bruno Riedl) wird befragt von Diana Dengler (rechts) und Anja Tobler.

Fraglos ist: Man lernt viel. Man lernt zum Beispiel die Story von Ottokar Hermann kennen, die allein einen prallen Theaterabend hergeben würde: Hermann, Sudetendeutscher, SS-Mann und Unternehmer mit Riecher fürs illegal Rentable, hat über Jahrzehnte vom Tessin aus (daher der Stücktitel «Lugano Paradiso») mit der DDR trotz Handelsembargo geschäftet. Und dabei nicht nur sich und den Schweizer Staat bereichert, sondern auch zur Existenzsicherung der offiziell als Klassenfeind geltenden DDR beigetragen.

Bruno Riedl spielt Ottokar als den Mann von Welt, der von allem nichts gewusst haben will und seine Hände in Unschuld wäscht – worin ihm die Schweizer Behörden brav gefolgt sind, ihn zwar jahrelang überwacht, aber dann 1985 anstandslos eingebürgert haben.

Hermanns wahre Geschichte wirft ein übles Licht auf die Doppelmoral der vordergründig neutralen und im Hintergrund profitsüchtigen Schweiz des Kalten Kriegs. Theatralisch kommt sie pikanterweise im Kino am stärksten zur Geltung – im zweiten Stückteil, für den das Publikum ins Kinok disloziert, sieht man Riedl per Überwachungskamera bei seinen schmutzig-sauberen Geschäften. Drehort des Agententhrillers: die Lokremise selber.

Jessica Cuna (Mitte) und das Ensemble in der «Protection»-Ausstellung.

Die filmische Umsetzung ist witzig und beklemmend – die anschliessenden Szenen in der Kunstzone geraten dafür umso dürftiger. In der klinischen Umgebung von Bettina Pousttchis Ausstellung «Protection» verlieren sich die Tanzkompagnie und die Schauspieler in Andeutungen von Folter und Unterdrückung. Hintergrund ist das Schicksal der hunderttausenden von Opfern der DDR-Stasi, die wegen Nichtigkeiten eingesperrt wurden und deren Lebensweg der Staat zerstört hat.

Jessica Cuna übernimmt hier die Hauptrolle mit dem Monolog von Stasiopfer Jessica Schwartz. Verhaftung wegen dem Lesen einer kritischen Zeitschrift, Verhöre und Folter gemäss dem «Zersetzungsmassnahmenplan» ihrer Peiniger, dreieinhalb Jahre Knast und die Erfahrung eines bodenlosen Nichts: Trotz dieser Horrorgeschichte will sich kein Bedrohungs- oder Beklemmungsgefühl einstellen. Die Figur verzettelt sich im Publikum und im weiten Raum der Kunstzone, die Choreographien (Sergiu Matis) sind allzu fahrig und nicht auf den Punkt gebracht. Was sich in diesem rund halbstündigen Mittelteil des Stücks einstellt, ist Langeweile – tatsächlich die schlimmste Theaterfolter, aber so wars wohl nicht gedacht.

Ein einig Volk von «Indiänerli»

Stärker ist der etwa einstündige Auftakt  im Theatersaal. Hier ist der Schweizer Staatsschutz in seiner ganzen lächerlichen Methodik zu erleben. Auf einem angedeuteten Fels, dahinter der Eingang zum Betonbunker, üben die angehenden Staatsschutzbeamten (Stefanie Fischer, Swane Küpper, Emily Pak und Giulio Panzi von der Tanzkompagnie, kommandiert von Fabian Müller) die Kunst des Fichen-Anlegens, die Observation verdächtiger, vorzugsweise linker «Elemente» und das Verhalten im Fall eines russischen Atomangriffs. Zwischendurch wird auch das Publikum observiert. «Versucht sich normal zu benehmen»: Wir sind ertappt, aber das bleibt folgenlos.

Eingeblendet in diese Fichen-Pantomime werden zwei Biographien, wie sie typisch waren für den bedrohungs-hysterischen helvetischen Zeitgeist.

Ilka Baer, Deckname Susi, wurde für die Ostschweizer «Zelle» der Geheimarmee P-26 angeheuert. Anstelle der verunfallten Birgit Bücker spielt Souffleuse Dorothea Gilgen die sympathische Ilka, die ihr Funkgerät bis am Ende nie erhalten hat, die im Geheimbunker in Gstaad das Löten von Apparaten und das Verstellen von Wegweisern zur Verwirrung des Feinds gelernt hat und von sich sagt: «Eine Heldin war ich nicht.» Aber auch: P-26 war mehr als «Indiänerlis» – man glaubte an die Rettung der Schweiz nach einem allfälligen Einmarsch der Russen. Ilkas Geschichte basiert wesentlich auf den Erinnerungen der realen «Susi», der St.Gallerin Susi Noger, Deckname «Tina».

Fichenopfer Müller (Hans Rudolf Spühler) im Visier der Staatsschützer (Fabian Müller, Jessica Cuna).

Peter Müller heisst im Stück der andere Protagonist: In  jungen Jahren Mitglied der Revolutionären Marxistischen Liga, wird er observiert und fichiert, verliert seine Stelle als Bibliothekar, wird das Stigma des «Staatsfeinds» nicht mehr los und bleibt der engagierte Zeitgenosse, der das Publikum am Ende daran erinnert, was heute wieder zentral bedroht sei: die Demokratie. Wesentliche Puzzleteile zu dieser Figur stammen aus Recherchegesprächen mit dem «Tagblatt»-Auslandredaktor Walter Brehm sowie mit anderen Fichenopfern. Hans Rudolf Spühler spielt Müller mit einer knurrigen Herzlichkeit.

Lugano Paradiso: nächste Vorstellungen 27. März, 4., 6. April
Buchpremiere und Podium: 24. März, 20 Uhr
Lokremise St.Gallen

theatersg.ch

Einmal wird Müller morgens um sechs von zwei Staatsschützern aus dem Bett geholt. Sie werden handgreiflich, und mit ihnen die Inszenierung. Da blitzt Theater auf, wie später noch einmal beim (zum Glück bloss eingebildeten) atomaren Angriff und den flammenden Appellen des ins irische Exil geflüchteten Bundesrats. Da kann endlich, treu nach einem US-Schulungsfilm, die vorher brav geübte Kunst des «duck and cover» angewendet werden. Und da kommt auch die Musik in Fahrt, Andi Peter und Nico Feer intonieren erst stockend, dann immer standfester die Nationalhymne, das ganze Ensemble richtet sich am «einig Volk von Brüdern» auf, und der Dritte Weltkrieg schrammt knapp noch einmal an der Eidgenossenschaft vorbei.

Zu viel Diskurs, zuwenig Spiel

Solche Szenen bleiben aber rar. Der Skandal der Überwachung wird faktenreich beschrieben, aber körperlich nicht spürbar, sowenig wie die Ungeheuerlichkeiten der heutigen Big Data-Realität. Auch die Bühne von Markus Karner ist starr, mit Ausnahme eines (wie im Restaurant Lok) munter fahrenden Tischs samt Bank. Er ist die Kommandozentrale, der Standort der Erzählerinnen Diana Dengler und Anja Tobler. Die beiden liefern souverän und aufopferungsvoll den faktenreichen historischen Soundtrack. Aber auch sie können das Korsett des Vorlesungstheaters nicht sprengen.

Goldverpackt: Das Finale. (Bilder: Iko Freese)

Das Schlussbild ist bezeichnend dafür: Bühne und Kulissen sind überdeckt mit goldglänzenden Tüchern. Die Schweiz kehrt ihre Vergangenheit unter den Geldteppich: So vielleicht könnte man das Bild übersetzen. Das Tuch bleibt bis zum Schluss, keiner, der es wegzerrt. Und die aktuellsten Bezüge des Stücks, die Aufrufe zu einer Art «Bürgerwehr» im St.Galler Linsebühl-Quartier, auf dass dort der Drogenkonsum «auf quartierverträglichem Niveau» bleibe, gehen unter.

Sauter und Knecht liefern Diskussionsmaterial zu einem noch immer oder bereits wieder verdrängten und vergessenen Stück fataler Schweizer Geschichte – das ist die grosse Leistung dieses langen Theaterabends. Aber die Bedrohung bleibt ebenso Behauptung wie die spartenübergreifende Zusammenarbeit von Kino, Kunstmuseum und Theater. Das Kino folgt allerdings mit einer einschlägigen Filmreihe im April (mehr dazu im Aprilheft von Saiten).

In Lugano Paradiso aber lässt einen der Kalte Krieg höchstens ab und zu ein bisschen frösteln. Kalt oder auch heiss wird er nicht.

 

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