, 8. Juli 2018
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Der Landesstreik, von unten erzählt

100 Jahre Landesstreik: In einer alten SBB-Halle in Olten wird im August und September das Jubiläum zum Theaterereignis. Zwei Beteiligte, der Thurgauer Historiker Stefan Keller und die Ausserrhoder Choreografin Gisa Frank, im Gespräch über die Aktualität des Landesstreiks und die Frage, wie man den Klassenkampf heute auf die Bühne bringt.

Probe in der Hauptwerkstätte in Olten. (Bild: pd)

Saiten: Früher hat man vom «Generalstreik» gesprochen, heute vom «Landesstreik». Steckt dahinter eine Neubewertung?

Stefan Keller: Nein. Der Streik vom November 1918 war ein Generalstreik, der alle Branchen und Regionen erfasste, zumindest fast alle. Es gab aber weitere, regionale Generalstreiks, etwa 1919 in Zürich und in Basel, ebenfalls mit Truppeneinsätzen. In den frühen 20er-Jahren hätte man bei «Generalstreik» nicht genau gewusst, welches Ereignis gemeint ist. Später, vielleicht in den 70er-Jahren, hat sich der Begriff namentlich in der Linken durchgesetzt. Heute kehrt man zurück zum ursprünglich gebräuchlicheren Wort. Vom «Landesstreik-Prozess» sprachen 1919 sowohl die Bürgerlichen als auch die verurteilten Streikführer.

Warum soll uns der Landesstreik heute interessieren?


Keller: Es handelt sich um die grösste innenpolitische Erschütterung seit 1848. Damals war der bürgerliche Staat gegründet worden, 1918 sollte in der Industriegesellschaft der Schritt Richtung Sozialstaat gemacht werden. Man hatte Angst vor dem Bürgerkrieg, man hat sich aufs Schwerste gegenseitig beschuldigt. Und die Forderung von damals sind bis heute aktuell: Fragen der Arbeitszeit, AHV, Gleichstellung, der Spekulation…

Stefan Keller, 1958, ist Historiker und Journalist. Er arbeitet an einer Geschichte der Arbeit im Thurgau und ist als Berater bei 1918.ch engagiert.

Die Konfrontation zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum gibt es allerdings heute nicht mehr, zumindest nicht in der Vehemenz von damals.

Keller: Die Frage wäre, ob es die Arbeiterklasse generell nicht mehr gibt; sicher artikuliert sie sich weniger und ist keine politische Macht mehr. Man könnte plakativ sagen: Statt dem Aufstieg als Klasse, wie er damals im Zentrum stand, ist nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Hochkonjunktur, der Aufstieg als Individuum erfolgt. Die Arbeiter und Arbeiterinnen konnten sich persönlich verbessern in einen vorher nie erträumten Wohlstand, die Hüslischweiz ist entstanden, das Klassenthema verlor an Dringlichkeit. Sobald du etwas zu verlieren hast, bist du weniger solidarisch.

Bringt das Theaterstück in Olten den Klassenkampf nochmal auf die Bühne? Wie spielt man überhaupt eine «Klasse»?

Gisa Frank: Hier im Projekt trafen ja lauter Einzelpersonen aufeinander, Individuen also, die sich als Gemeinschaft finden mussten. In den Proben, im körperlichen Tun, in der Improvisation ist sehr viel zusammengekommen an Austausch und manchmal auch Konfrontation. Die Inszenierung ist historisch gefärbt, aber die Prozesse sind aktueller denn je. Wer gesellt sich zu wem, wo gibt es Durchmischungen, wie werden Rollen besetzt – wobei es im Stück keine durchgehenden Figuren gibt.

Das Individuum tritt nicht in Erscheinung?


Frank: Doch, sehr. Die Mitwirkenden haben das Stück geprägt mit dem Bewegungsmaterial, das sie in den Proben entwickelt haben. Wir haben zum Beispiel mit Stichworten wie «Widerstand» oder «Miteinander» gearbeitet, und vor allem sind wir von Verben ausgegangen. Bewegung drückt sich ja in Verben aus – es gab eine riesige Liste davon: zerren, stossen, verbarrikadieren, sich zurückziehen, aufbegehren, streiken, zugreifen, distanzieren und so weiter. Damit haben wir experimentiert, und daraus hat sich das leicht schräge Bewegungsmaterial ergeben.

Gisa Frank, 1960, ist Choreografin und Tanzschaffende in Rehetobel. Sie gehört zum künstlerischen Leitungsteam des Theaterstücks 1918.ch – 100 Jahre Landesstreik in Olten.

Inwiefern schräg?


Frank: Um beim «Zerren» als Beispiel zu bleiben: Wir haben geschaut, wie jemand dies gestisch umsetzt, und was passiert, wenn dann alle diese Geste übernehmen, aber auch, wenn einer zerren will und es doch nicht tut… Der Einzelne taucht ein in die Masse, die Masse strömt auseinander, ein Impuls verändert alles, wie man einen Stein ins Wasser wirft. Oder: Die Zürcher und die Grenchener treten gegeneinander an – und plötzlich verliert man die Sicherheit, wer wer ist, es geht um die Kraft des Demonstrierens allgemein. Die zweite zentrale Verständnisebene schafft dann der Text, eng verwoben mit den bewegten Aktionen.

Keller: Ich möchte noch betonen: Kollektiv heisst nicht, dass das Individuum ausgelöscht wird. Viele haben beim Stichwort Landesstreik rasch das Bild einer «Arbeitermasse» vor sich, anonyme Figuren mit maschinenölverschmierten Gesichtern, alle gleich. Das ist historisch natürlich falsch, die Menschen waren genau so individuell wie heute, aber sie haben sich aus der Not zusammengeschlossen und ihre Interessen gemeinsam definiert.

Die Not war ja riesig, viele Menschen haben gehungert – man könnte denken, dass in einer solchen Lage jeder einzelne nur an sich denkt. Aber so war es offenbar nicht, es gab eine starke Solidarisierung im Volk. Ist der Landesstreik in dem Sinn eine positive helvetische Geschichte?

Keller: Für mich als heutigen Schweizer Linken auf jeden Fall. Aber vor allem ist der Landesstreik als Phänomen interessant. Der Zusammenschluss kam ja nicht aus heiterem Himmel, sondern war das Resultat einer jahrzehntelangen Organisations- und Mobilisierungsarbeit. Auch einer jahrelangen Erfahrung von Not. Es gab damals eine proletarische Parallelkultur, vom Arbeitersängerverein bis zum Arbeiterradfahrverein, vom Volkshaus bis zum gemeinsamen Einkauf im Konsumverein. Das waren Selbsthilfeorganisationen, weil sich die Arbeiterschaft von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen fühlte.

Frank: Das Ensemble hat sich mit dem Damals sehr beschäftigt, mit den historischen «Facts», und entsprechend tauchte immer wieder das Bedürfnis auf, konkrete Geschichten möglichst «naturalistisch» zu spielen. Das war ein längerer Prozess von einem quasi-dokumentarischen hin zu einem performativen Theater. Und wie damals beim Streik gehört es dazu, auch mal einzustehen für seine Rechte. Wobei die Gruppe durchwegs sehr anständig und engagiert ist. Sehr schweizerisch. Kritik kommt zurückhaltend und zudienend.

Streiken war nie ein Thema?


Frank: Das Theater ging sicher zum Teil an die Grenzen. Von den Mitwirkenden wird ja ein gewaltiges Engagement verlangt, ein grosses Mass an Freiwilligenarbeit. Ich bin voller Bewunderung dafür.

Im Zusammenhang mit dem Landesstreik wurde auch schon kritisiert, die Geschichtsschreibung «von unten» komme zu kurz.

Keller: Tatsächlich wird der Landesstreik zu wenig aus der Sicht derjenigen erzählt, die gestreikt haben, und zu stark aus der Sicht der Behörden und der gewerkschaftlichen Funktionäre. Das ist auch innerhalb der Linken das traditionelle Narrativ – alles dreht sich hier immer um das Oltener Aktionskomitee. Was die Arbeiter in Arbon oder Herisau gedacht haben, kommt nur am Rand vor. Regisseurin Liliana Heimberg hat nun versucht, die grosse Geschichte aus vielen kleinen Geschichten heraus zu erzählen, aus teils anekdotischen Szenen.

Gibt es Quellen, wie es dem «Mann von der Strasse» ergangen ist?

Keller: Die Zeitungen haben darüber geschrieben, es gibt Briefe, Erinnerungen, es gibt auch neuere sozialhistorische Untersuchungen, etwa zur Lebensmittelversorgung in Basel. Ich bin selber zum vierten Mal mit einem Generalstreik-Jubiläum beschäftigt, nach 1988, 1998 und 2008. Da sammelt sich viel Material im Archiv auch über das alltägliche Leben der «kleinen» Leute. Und hinzu kommt ein persönlicher Bezug: Mein Grossvater hat als Soldat den Streik bekämpft, andere, wie mein verstorbener Freund Ernst Rodel, wurden durch den Streik politisiert. Das Bild des Landesstreiks setzte sich bei mir immer schon aus mündlichen Erzählungen zusammen.

Was hat der Grossvater erzählt?

Keller: Mein Grossvater war überzeugt, er bekämpfe den Bolschewismus, und ist dabei fast umgekommen, weil er die Grippe erwischt hat. Als Kranker bekam er dann nicht mal eine eigene Matratze, er musste das Bett mit einem Sterbenden teilen. Die Grippe hat ja viele hundert Opfer gefordert, nicht der Streik, und dies auf beiden Seiten.

Du sprichst von «beiden Seiten»: Waren die Soldaten nicht auch Arbeiter?

Keller: Zum Teil. In Arbon etwa hat die Streikversammlung dagegen protestiert, dass Thurgauer Arbeiter gegen Thurgauer Arbeiter aufgeboten würden. Viele Soldaten waren aber Bauern, Kavalleristen wie mein Grossvater, und denen hat man gesagt: Die Arbeiter wollen Revolution machen, dagegen müsst ihr euch wehren. In seinen Erinnerungen schreibt mein Grossvater, wie gerne er einem Bolschewisten den Säbel über den Kopf geschlagen hätte. Die Grossmutter hat später bei einem Gespräch eingewendet: Man hat uns damals wohl allerhand erzählt, was nicht stimmte.

Frank: Das Theater fängt im Innenhof mit einer Szene zur Grippeepidemie an: Informationen werden von den Dächern gerufen, Frauen suchen nach ihren Männern oder Söhnen, nach den Grippetoten und Weltkriegstoten.

Milchversorgung während des Generalstreiks in Zürich. (Bild: Archiv Stefan Keller)

Keller: Es herrschte Chaos. Die Grippe hat weltweit schätzungsweise bis zu 50 Millionen Tote hinterlassen. Viele hatten sie aus dem Aktivdienst mitgebracht, jetzt kamen auch noch Deutsche zurück, die aus der Schweiz in den Krieg gezogen waren. In Konstanz und Lörrach wurden Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Die Gegensätze haben sich zugespitzt zwischen den sozialen Schichten. Das gesellschaftliche Klima war ausserordentlich polarisiert.

Paul Rechsteiner schreibt in einer Publikation zum Landesstreik: «Der Generalstreik grub sich tief in die Emotionen der Leute
ein, mit Nachwirkungen bis heute.» Ist das so?

Keller: Es gibt eine starke Emotionalität, ja. Die Geschichte des Landesstreiks war lange Zeit tabuisiert, erstmals wissenschaftlich erforscht hat sie Willi Gautschi, sein Buch ist 1968 erschienen und wurde immer wieder aufgelegt, ein Grundlagenwerk. Die Linken haben den Generalstreik gern verherrlicht, ich gehörte auch dazu, und die Kapitulation des Aktionskomitees haben wir entsprechend missbilligt, aber eigentlich muss man sagen: Die Kapitulation war das Vernünftigste, weil es sonst vielleicht ein Massaker gegeben hätte. Die Vorfälle am selben Tag in Grenchen, wo drei Arbeiter erschossen wurden, zeigten, was hätte passieren können. Der Landesstreik war immer ein Diskussionsthema, wenn auch eher untergründig. Ganz viele Leute haben ja seit den 50er-Jahren geglaubt, in der Schweiz sei Streiken verboten. Streik war ein Tabu.

Als Folge der Sozialpartnerschaft?


Keller: Seit dem sogenannten Arbeitsfrieden der 30er-Jahre und der nachfolgenden «geistigen Landesverteidigung». Es gab nach dem Krieg zwar noch grosse Streikwellen, das hat man jedoch verdrängt, und seit Beginn der Hochkonjunktur kam es nur noch vereinzelt zu Streiks, die dafür teils berühmt geworden sind – wie der Streik in der Klavierfabrik Burger & Jacobi in Biel 1974, der im Film Ein Streik ist keine Sonntagsschule dokumentiert ist. In den letzten rund 20 Jahren ist der Streik als Kampfmittel durch die Gewerkschaften wieder aktiviert worden, und er hat die Gewerkschaften massgeblich gestärkt. Zu wissen, dass man streikfähig ist – das ist das Entscheidende. Wenn du mobilisieren kannst, kannst du Druck machen. Aktuell geworden ist dies durch die Aufkündigung des sozialen Friedens im Zuge des Neoliberalismus. Das Streikrecht steht seit 1999 sogar ausdrücklich in der Bundesverfassung.

Dennoch laufen Mobilisierungen heute anders ab. Die Operation Libero ist ein Bespiel dafür: Sie mobilisiert themenbezogen, von der Basis her, ausserparlamentarisch, parteiunabhängig und über soziale Medien.

Keller: Ich war beim «Dringenden Aufruf» selber Teil einer solchen Mobilisierung, halte sie allerdings für weniger nachhaltig. Es fehlt das Instrument, nachher weiter zu gehen und Alternativen durchzusetzen. Wieviel die gewerkschaftliche Mobilisierung in den letzten Jahren erreicht hat, wird dagegen oft unterschätzt. Die flankierenden Massnahmen etwa oder andere Arbeitsschutzbestimmungen, auch das Rentenalter 60 der Bauarbeiter zählt dazu – als dieses das letzte Mal zur Diskussion stand, haben die Arbeiter den Hauptbahnhof Zürich blockiert, davor schon einmal den Bareggtunnel. Mit solchen klassisch gewerkschaftlichen Mitteln kann man etwas erreichen, weil es für die Unternehmer kostspielig wird.

Du redest hier als Gewerkschafter, aber andererseits kritisiert man, dass die Arbeiter kaum noch zu mobilisieren sind. Was sicher teils die Folge neuer Arbeitsbedingungen ist.

Keller: Es ist natürlich nicht mehr wie früher: Die Sirene ertönt, und 4000 Arbeiter kommen aus der Fabrik… Ein Industrieproletariat gibt es nicht mehr, zumindest keines mit Stimmrecht. Die heutige Arbeiterklasse sind die Arbeitsmigrantinnen und -migranten, gerade auch, weil man sie nicht richtig integriert: Wir haben deshalb so hohe Ausländerzahlen, weil wir so zögerlich einbürgern.

In den Gewerkschaften findet man allerdings viele Leute mit sogenanntem Migrationshintergrund, dort können sie sich auch ohne Bürgerrecht engagieren. Die Bauarbeiter haben heute einige Macht, bei den Druckern hingegen, wo ständig weniger Leute beschäftigt werden, ist die Gewerkschaft sehr viel schwächer geworden.

1918 waren die Arbeiter von der Politik weitgehend ausgeschlossen. Ist das heute, mit der SP in Parlamenten und Regierungen, nicht sehr anders? Die Besitz- und Reichtumsverhältnisse sind wohl insgesamt verwischter und weniger an einer Klasse festzumachen.

Keller: Weil jeder sich als Mittelstand versteht, ja. Die Klassengesellschaft funktioniert nicht mehr wie damals, aber das müsste man soziologisch genauer analysieren. Wann ist man eine «Klasse»? Wenn man ein entsprechendes Bewusstsein hat, sich entsprechend organisiert? Neben der verschwindenden Arbeiterklasse gibt es zudem ein SVP-Proletariat, sich deklassiert fühlende Schweizerinnen und Schweizer.

Vergessen wir nicht: Als Dreher bei Saurer führte man eine hoch qualifizierte Arbeit aus, darauf war man stolz, und der Stolz färbte auf die Haltung gegenüber dem Unternehmen ab. Was nie genug erforscht werden kann, ist die Situation der «normalen Büezer». Wie wehrst du dich? Wie wahrst du deine Würde? Das sind wichtige Fragen, damals wie heute.

Bezieht das Theater Stellung – etwa gegen den General oder 
den Bundesrat, der hysterisch Truppen aufgeboten hat? Fragt es nach Schuldigen?

Frank: Es versucht eher, die Zeit lebendig zu machen. Als Zuschauer soll man sich selber eine Meinung bilden. Zum Beispiel taucht wiederholt die Helvetia auf, als Madonna, als Entsetzte, als Balance-Suchende oder als Übermutter, die alle unter ihren Schutz nimmt. Das Stück arbeitet stark mit solchen assoziativen Bildern.

Keller: Zu zeigen, was die Leute bewegt hat, ist interessanter, als ein Urteil darüber zu fällen. Das Stück zum Landesstreik erzählt nicht die «Moral» der Geschichte, sondern es zeigt Bilder, Eindrücke, Szenen.

Frank: Die Politik ist natürlich da, man sieht zum Beispiel die Debatten in Bundesbern, doch kaum ist fertig diskutiert, taucht ein Velofahrer aus dem Tessin auf und erzählt, wie sich dort alle auf den Milchwagen gestürzt hätten. Das Stück ist ein schnelles Bilderpanorama, mehrsprachig, manchmal mit kurligen Übersetzungen, und auch mit Witz. Manchmal diskutieren die Frauen, und man sieht, wie sie unter sich gespalten waren. Ein anderes Thema ist der Hunger, es werden die Volksküchen eröffnet, man sieht das Löffeln und Löffelklopfen. Es sind emotionale Bilder, ohne dass man das Stück in eine bestimmte politische Ecke stellen könnte.

Könnte das nicht verharmlosend wirken?


Keller: Auf keinen Fall. Man wird die Not erleben, aber das Ganze will kein Lehrstück oder Agitationsstück sein, sondern eher ein forschendes Stück. Alles, was im Stück gesagt wird, ist dokumentarisch. Und eine weitere Ebene bringen die 20 mitwirkenden Kantone ein. Sie spielen im Wechsel jeweils eine Szene, die in das Stück integriert wird. Das ist ein hoch interessantes Experiment, föderalistisch, doch zugleich wird daraus ein nationales Projekt. Diese Mitwirkung der Kantone war ihrerseits nur möglich, weil wir nicht auf Ideologie oder auf Verurteilung aus waren. Ein Kulturamtsvertreter eines Kantons in der Zentralschweiz hat uns gesagt: «Aber Sie wissen: Unsere Regierungsräte sind noch heute gegen den Generalstreik.» Wir fanden: Ja wunderbar, dann spielt das doch!

Frank: Für die Kostüme hat sich Eva Butzkies von alten Uniformen inspirieren lassen und daraus eigenwillige Kleider gestaltet, mit Schriftbändern, mit historischen Versatzstücken, jedes anders. Die Historie ist präsent, aber sie wird verwandelt. Geschneidert wurde von Freiwilligen – es ist insgesamt eine grosse Mobilisierung rund um das Theaterprojekt passiert.

Keller: Die Arbeit begann vor drei Jahren, und nur schon die Standortsuche war ein langer Prozess, bis die Halle hier in Olten gefunden war. Es ist eine alte Werkhalle der SBB, in der die Spuren der Arbeit noch zu sehen und zu riechen waren. Als wären die Arbeiter gerade erst gegangen.

Wäre ein Landesstreik heute denkbar? Und für welches Anliegen würde er sich lohnen?

Keller: Im Prinzip noch immer für die gleichen Anliegen – Menschenrechte, Gleichstellung, Arbeitsverhältnisse, hinzu kommen heute die ökologischen Fragen, vielleicht wäre auch mal ein Generalstreik aller Ausländerinnen und Ausländer gut. Themen gäbe es genug, konkret kann ich mir einen Landesstreik heute kaum vorstellen. Aber plötzlich gibt es historische Momente… Das war auch damals so, allerdings war man viel streikaffiner und geübter. Die Frage: «Wie wäre es heute mit einem Landesstreik?» ist aber grundsätzlich problematisch, wie immer in der Geschichte – man kann gewisse Parallelen erkennen, aber man kann nie ein Damals mit dem Heute gleichsetzen.

Der letzte nationale Streik war der Frauenstreik im Juni 1991.

Keller: Da hatte ich zuerst das Gefühl: Das geht schief. Ich traute der Mobilisierung nicht, es wurde aber ein prägender Erfolg. Meine Prognosen stimmen nie…

Was bleibt aus eurer Beschäftigung mit dem Landesstreik?


Frank: Mich interessiert der Austausch über die Menschenthemen, die zeitlos bleiben, und die «innerpolitischen», individuellen und körperlichen Lösungen dazu. Bewegte Gestaltung im Theater ist ein sehr aussagekräftiges Mittel, um Widerstand, den Zusammenhalt untereinander, Aufruhr und das Einstehen für eine Haltung, für die eigene Meinung zu versinnbildlichen. Und, nie zu vergessen: Im Gegensatz zu damals gehören wir zu einer Generation, die äusserlich nicht bedroht ist oder hungern muss. Das ist ein riesiges Privileg.

Noch ein Blick in die Ostschweiz: Oberstdivisionär Emil Sonderegger, ein Ausserrhoder, war einer der Scharfmacher, er befehligte die Truppen in Zürich.

Keller: Sonderegger war eine üble Figur, übrigens auch ein Antisemit. Wäre er nicht 1933 an einem Hirntumor gestorben, wäre er wohl der bedeutendste Frontistenführer geworden. 1918 hat er in Zürich Handgranaten verteilt, die man in die Mietskasernen geworfen hätte, wenn der Streik eskaliert wäre. Was mich aus Ostschweizer Perspektive aber am meisten interessiert, ist wiederum: Was ist in den einzelne Orten passiert? Geschichtliche Vorgänge begreift man nur, wenn man sie im Detail begreift. Der Landesstreik, das war nicht «Olten» oder «Zürich». Die Arbeiter haben hier bei uns gestreikt, und sie taten es nicht, weil man es ihnen befohlen hatte, sondern aus Überzeugung. Mich interessiert: Warum gab es in Frauenfeld eine Bürgerwehr und was hat sie gemacht? Was geschah in Bürglen, was in Schönenberg-Kradolf? Stark war die Arbeiterbewegung in Arbon und Rorschach, aber vielleicht gerade deswegen nahm der Landesstreik dort einen ganz friedlichen Verlauf. Am Ende haben sich die Arboner Streikenden beim militärischen Platzkommandanten bedankt für die gute Zusammenarbeit.

Der Streik:

Ursachen und Folgen des Landesstreiks sind auch unter Historikern bis heute umstritten. Tiefe Löhne, hohe Teuerung, knappe Lebensmittel und entschädigungslose Militärdienste brachten die Arbeiterschaft in Not und Armut, während Industrie und Landwirtschaft im Ersten Weltkrieg florierten. Als im November 1918 soziale Unruhe aufkam, liess der Bundesrat die grossen Städte militärisch besetzen.

Die Arbeiterschaft reagierte mit einem Warnstreik am 9. November und einem anschliessenden landesweiten Generalstreik. 250’000 Leute nahmen daran teil. Die Streikleitung, das von Robert Grimm präsidierte «Oltener Aktionskomitee», forderte soziale und politische Gerechtigkeit, bessere Lebensmittelversorgung, AHV, Frauenstimmrecht und Teilhabe der Arbeiterinnen und Arbeiter an der Macht.
Das Militär wurde gegen die Streikenden eingesetzt. Am 14. November wurde der erste und einzige schweizerische Landestreik bedingungslos abgebrochen.

Das Stück:

100 Jahre nach dem Landesstreik erinnert vom 16. August bis
23. September ein nationales und mehrsprachigen Theaterereignis in Olten an die Vorgänge von 1918 und ihre weitreichenden Folgen.
Den einfachen Leuten soll in der Inszenierung das Hauptaugenmerk gelten. Beteiligt sind rund 100 Mitwirkende, begleitet werden sie von der Basel Sinfonietta und einem Theaterchor. Die künstlerische Leitung haben Liliana Heimberg (Regie), Gisa Frank (Choreografie) und Eva Butzkies (Kostüme). Ins Stück integriert werden Szenen aus 20 Kantonen. In jeder Vorstellung sind jeweils zwei dieser regionalen Gruppen zu sehen, jede Aufführung erhält dadurch ein eigenes Gesicht. Die Ostschweizer Kantone treten an folgenden Daten in Olten auf: TG 5./6./7. September, AR und AI 12./13./14. September, SG 22./23. September.

Infos und Vorverkauf: 1918.ch

Dieser Beitrag erschien im Sommerheft von Saiten.

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