Der Leuchtturm kommt ins Wanken

Das Projekt für eine neue Kantons- und Stadtbibliothek in St.Gallen bekommt politischen Gegenwind. Die bürgerlichen Parteien fordern eine Verkleinerung und wollen die «regionale Ausgewogenheit» stärken.

Sie soll ein Leucht­turm wer­den, der weit über die Gren­zen der Stadt St.Gal­len hin­aus­strahlt, bis in die ent­le­gens­ten Win­kel des Kan­tons, ja in die gan­ze Ost­schweiz: die neue Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek im Her­zen der Alt­stadt. Nach jah­re­lan­ger Pla­nung hat­te sich Mit­te 2021 der Ne­bel so weit ge­lich­tet, dass man zu­min­dest ih­re Kon­tu­ren am Ho­ri­zont er­ken­nen konn­te. Da­mals prä­sen­tier­te der Kan­ton das Sie­ger­pro­jekt «Dop­pel­de­cker». Im um­ge­bau­ten Uni­on-Ge­bäu­de und in ei­nem dar­an an­schlies­sen­den Neu­bau auf dem Blu­men­markt soll ei­ne mo­der­ne Pu­bli­kums­bi­blio­thek ent­ste­hen, ein Ort des Wis­sens, der Ver­mitt­lung und des Aus­tauschs, ein Treff­punkt. Zu den Bau­kos­ten von 141,5 Mil­lio­nen Fran­ken kom­men Be­triebs­kos­ten von jähr­lich knapp 10 Mil­lio­nen hin­zu, rund drei Mil­lio­nen mehr als heu­te.

Ge­mäss Zeit­plan soll­ten die­sen Herbst die Par­la­men­te von Stadt und Kan­ton die Vor­la­ge be­ra­ten, für 2025 wa­ren die Volks­ab­stim­mun­gen vor­ge­se­hen und 2030 soll­te die neue Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek er­öff­net wer­den. Doch die­ser Zeit­plan – er wur­de be­reits ein­mal um ein Jahr nach hin­ten ver­scho­ben – dürf­te kaum ein­zu­hal­ten sein. Denn der po­li­ti­sche Wi­der­stand ge­gen das Gross­pro­jekt nimmt zu. Das zeig­te sich schon in der im Herbst 2023 durch­ge­führ­ten Ver­nehm­las­sung zum Be­trieb der Bi­blio­thek.

Ein Leucht­türm­li statt ein Leucht­turm

Dass es das Pro­jekt im bür­ger­lich do­mi­nier­ten Kan­tons­rat grund­sätz­lich schwer ha­ben wür­de, war zu er­war­ten. Die SVP, mit 42 von 120 Sit­zen die mit Ab­stand stärks­te Kraft, tat schon bei der Er­ar­bei­tung des Bi­blio­theks­ge­set­zes vor rund zehn Jah­ren ih­re Ab­leh­nung ge­gen ei­nen Neu­bau für die ge­mein­sa­me Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek kund und hat die­se Hal­tung seit­her bei je­der sich bie­ten­den Ge­le­gen­heit be­kräf­tigt.

Untitled (2020), Sascha Huth

Jetzt bringt auch die FDP den Leucht­turm ins Wan­ken. Die selbst­er­nann­te «Bil­dungs­par­tei» reich­te An­fang Mai im Kan­tons­rat ei­ne In­ter­pel­la­ti­on mit dem Ti­tel «Kan­to­na­le Bi­blio­theks­land­schaft – re­gio­nal aus­ge­wo­gen» ein. Und An­fang Ju­li dop­pel­ten die Frak­tio­nen von FDP/Jung­frei­sin­ni­gen und SVP im Stadt­par­la­ment mit der In­ter­pel­la­ti­on «Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek – Vor­tei­le für Stadt und Kan­ton» nach, mit teil­wei­se dem­sel­ben Wort­laut wie in der FDP-In­ter­pel­la­ti­on.

Die zwi­schen den Zei­len ge­äus­ser­te Haupt­for­de­rung ist letzt­lich in bei­den Vor­stös­sen die­sel­be: ei­ne Re­di­men­sio­nie­rung des Pro­jekts. Der po­li­ti­sche Wi­der­stand droht al­so aus dem Leucht­turm ein Leucht­türm­li zu ma­chen – oder ihm die Lich­ter gar ganz aus­zu­knip­sen.

«Nut­zen nicht er­sicht­lich»

Die kan­to­na­le FDP be­ken­ne sich grund­sätz­lich zum ge­setz­li­chen Auf­trag und zum Vor­ha­ben, dass Kan­ton und Stadt St.Gal­len im Sinn ei­nes wirt­schaft­li­chen und zweck­erfül­len­den An­ge­bots an zen­tra­lem Stand­ort ei­ne all­ge­mein zu­gäng­li­che Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek er­rich­ten, schreibt sie in der In­ter­pel­la­ti­on. Nebst den ho­hen Kos­ten kri­ti­siert sie im Vor­stoss, die Vor­la­ge sei «schwer­ge­wich­tig auf die Kan­tons­haupt­stadt (Stand­ort Uni­on) aus­ge­rich­tet und brin­ge für die wei­te­ren Re­gio­nen im Ver­gleich zum Sta­tus quo nur ei­nen ge­rin­gen Nut­zen bzw. ist ein sol­cher, Stand heu­te, nicht er­sicht­lich». Sie er­kun­digt sich des­halb bei der Re­gie­rung un­ter an­de­rem nach Mass­nah­men zur Stär­kung der «re­gio­na­len Aus­ge­wo­gen­heit der kan­to­na­len Bi­blio­theks­land­schaft mit den be­stehen­den fi­nan­zi­el­len Mit­teln» und fragt, ob sie be­reit wä­re, «das Bi­blio­theks­ge­setz zu­guns­ten ei­ner ver­stärk­ten Re­gio­na­li­sie­rung an­zu­pas­sen».

Sai­ten hät­te für die­sen Ar­ti­kel ger­ne mit ver­schie­de­nen Ver­tre­ter:in­nen der FDP ge­spro­chen. Kan­tons­rä­tin Isa­bel Schorer, die in der ver­gan­ge­nen Le­gis­la­tur von al­len Frei­sin­ni­gen im Kan­tons­rat am kul­tur­freund­lichs­ten ab­ge­stimmt hat­te, so­wie der St.Gal­ler Stadt­par­la­men­ta­ri­er und Prä­si­dent des Ver­eins Pro Stadt­bi­blio­thek Karl Schim­ke hat­ten für ein Ge­spräch be­reits zu­ge­sagt, krebs­ten nach Rück­spra­che mit der Par­tei­lei­tung aber zu­rück. Die ge­plan­ten An­fra­gen an die bei­den Kan­tons­rä­te Jig­me Shitset­sang, Stadt­rat von Wil, und Mar­tin Stöck­ling, Stadt­prä­si­dent von Rap­pers­wil-Jo­na, er­üb­rig­ten sich da­mit eben­falls. So äus­ser­ten sich Chris­ti­an Lip­pu­ner, Prä­si­dent der FDP-Frak­ti­on im Kan­tons­rat, und Fe­lix Kel­ler, Prä­si­dent der Frak­ti­on von FDP und Jung­frei­sin­ni­gen im St.Gal­ler Stadt­par­la­ment, al­ler­dings nur schrift­lich.

Die Fra­ge, war­um die Par­tei­lei­tung nicht to­le­riert, dass al­len­falls ab­wei­chen­de Mei­nun­gen auf den Tisch kom­men, kon­tert Lip­pu­ner als «fal­sche Un­ter­stel­lung». Kel­ler sagt, es ent­spre­che dem «üb­li­chen Vor­ge­hen, dass der Frak­ti­ons­prä­si­dent wie be­reits bei an­de­ren Stel­lung­nah­men zur Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek die Hal­tung der Frak­ti­on ver­tritt».

Schiff­bruch bei Volks­ab­stim­mung ver­hin­dern  

War­um hat die FDP-Frak­ti­on ih­re Vor­be­hal­te und For­de­run­gen nicht schon viel frü­her im po­li­ti­schen Pro­zess ge­äus­sert, son­dern bringt sie erst jetzt ein, da das Pro­jekt auf die Ziel­ge­ra­de ein­biegt? Die Ver­nehm­las­sungs­ant­wor­ten und die dar­auf­fol­gen­den Mo­na­te hät­ten deut­lich auf­ge­zeigt, dass das vor­lie­gen­de Pro­jekt auf­grund der an­ge­pran­ger­ten Män­gel wohl spä­tes­tens bei ei­ner Volks­ab­stim­mung Schiff­bruch er­lei­den dürf­te, ant­wor­tet Lip­pu­ner. «Die Vor­la­ge war so­mit kei­nes­wegs auf der Ziel­ge­ra­den, son­dern droh­te zu schei­tern, wenn nicht vor­ab ei­ne fun­dier­te Dis­kus­si­on ge­führt und bren­nen­de Fra­gen be­ant­wor­tet wer­den.»

Extrude coffee table (2024), Arthur Vallin

Sand (2021), Daniel Gustav Cramer

Kel­ler ar­gu­men­tiert ähn­lich: An­ge­sichts der Kos­ten sei es an­ge­zeigt, der Ge­samt­be­völ­ke­rung den Nut­zen die­ses Vor­ha­bens klar auf­zu­zei­gen und zu kom­mu­ni­zie­ren. Das sei bis­her nicht ge­lun­gen. Der­zeit ge­be es zu vie­le of­fe­ne Fra­gen, um von ei­ner mehr­heits­fä­hi­gen Vor­la­ge spre­chen zu kön­nen. Das re­gio­na­le Un­gleich­ge­wicht und die ho­hen Kos­ten dürf­ten sich eben­falls ne­ga­tiv auf die Er­folgs­chan­ce an der Ab­stim­mungs­ur­ne aus­wir­ken, sagt Kel­ler. Der Stadt­rat er­hal­te mit der In­ter­pel­la­ti­on auch auf städ­ti­scher Ebe­ne die Ge­le­gen­heit, dies nach­zu­ho­len. «Schreckt man vor die­sen Fra­gen zu­rück oder fin­det kei­ne Ant­wor­ten, wird man auch in ei­nem all­fäl­li­gen Ab­stim­mungs­kampf nicht er­folg­reich sein.»

FDP for­dert Um­ver­tei­lung der Gel­der

Die Um­set­zung des Pro­jekts set­ze ei­nen sicht­ba­ren Mehr­wert für die ver­schie­de­nen An­spruchs­grup­pen im gan­zen Kan­ton und auch in fi­nan­zi­el­ler Hin­sicht vor­aus, so Lip­pu­ner. Als Bei­spiel für die­sen «Mehr­wert» und den an­ge­spro­che­nen «Nut­zen» nennt er ei­ne Fa­mi­lie aus dem Linth­ge­biet oder Sar­gan­ser­land, die das di­gi­ta­le An­ge­bot oder die Fern­lei­he nut­ze. Für sie ma­che es je­doch kei­nen Un­ter­schied, ob ein Buch von der Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek St.Gal­len oder von der Bi­blio­thek Haupt­post ver­sen­det wor­den sei. Fi­nan­zi­ell re­sul­tie­re durch den Neu­bau je­doch sehr wohl ei­ne gros­se Zu­satz­be­las­tung. «Der Nut­zen-Kos­ten-Ver­gleich geht, ins­be­son­de­re auf­grund des über­di­men­sio­nier­ten Pro­jekts, in die­sem Zu­sam­men­hang nicht mehr für den gan­zen Kan­ton auf.»

Tat­sa­che sei zu­dem, dass für die ganz gros­se Mehr­heit die Bi­blio­thek in der ei­ge­nen Re­gi­on das ers­te und in der Re­gel ein­zig ge­nutz­te bi­blio­the­ka­ri­sche An­ge­bot sei. «Re­gio­na­le Aus­ge­wo­gen­heit» heis­se für die FDP al­ler­dings nicht, die För­der­gel­der «durch­ge­hend hoch­fah­ren», son­dern die Mit­tel in der Haupt­stadt zu re­di­men­sio­nie­ren und die Mög­lich­keit zu schaf­fen, auch kan­to­na­le In­fra­struk­tur­bei­trä­ge zur At­trak­ti­vi­täts­ver­bes­se­rung von Bi­blio­the­ken aus­ser­halb der Haupt­stadt zu spre­chen.

Neue Bi­blio­thek und Lu­do­thek Wer­den­berg ge­schei­tert

Für die För­de­rung der Stadt- und Ge­mein­de­bi­blio­the­ken in den Re­gio­nen hat der Kan­ton 2019 die Fach­stel­le Bi­blio­the­ken ins Le­ben ge­ru­fen. Die Bi­blio­theks­för­de­rung ist mit 350’000 Fran­ken jähr­lich do­tiert, nach Ab­zug der Lohn- und Sach­auf­wän­de ver­blei­ben noch 210’000 Fran­ken. Das Geld ist ge­bun­den an Pro­jek­te oder Mass­nah­men, die teil­wei­se auch al­len Bi­blio­the­ken zu­gu­te­kom­men. Ex­pli­zit da­von aus­ge­nom­men ist die Un­ter­stüt­zung von Bau- und In­fra­struk­tur­aus­ga­ben. Für die­se müs­sen ge­mäss Bi­blio­theks­ge­setz die Ge­mein­den auf­kom­men. «Dies steht im kras­sen Ge­gen­satz zum Gross­pro­jekt in St.Gal­len», sagt Lip­pu­ner. Doch aus­ge­rech­net die FDP hat­te bei der Be­ra­tung des Bi­blio­theks­ge­set­zes En­de 2012 im Kan­tons­rat mit ei­nem Än­de­rungs­an­trag ei­ne Stär­kung der Ge­mein­de­au­to­no­mie er­reicht, in­dem die für die Grund­ver­sor­gung haupt­ver­ant­wort­li­chen Ge­mein­den «frei über Um­fang, Aus­ge­stal­tung so­wie Art und Wei­se der Auf­ga­ben­er­fül­lung» ent­schei­den soll­ten.

An der Fi­nan­zie­rung ist im ver­gan­ge­nen Jahr das Neu­bau­pro­jekt für ei­ne ge­mein­sa­me Bi­blio­thek und Lu­do­thek Wer­den­berg (BiLuWe) ge­schei­tert. Zum ei­nen ver­wei­ger­ten zwei der sechs Trä­ger­ge­mein­den die Er­hö­hung der Bei­trä­ge, zum an­de­ren gab es aus dem ge­nann­ten Grund kein Geld aus dem kan­to­na­len Lot­te­rie­fonds, weil es die Kri­te­ri­en da­für nicht er­füll­te.

Aus Krei­sen, die den Bi­blio­the­ken na­he­ste­hen, ist zu hö­ren, die In­ter­pel­la­ti­on der FDP-Frak­ti­on zur neu­en Kan­tons­bi­blio­thek jetzt sei auch ei­ne Fol­ge der ge­schei­ter­ten BiLuWe. Chris­ti­an Lip­pu­ner, der in Grabs wohnt, be­strei­tet dies. Das Bei­spiel zei­ge je­doch sehr an­schau­lich auf, wo das Pro­blem lie­ge und wie gross das re­gio­na­le Un­gleich­ge­wicht sein kön­ne. Wäh­rend in der Haupt­stadt ei­ne Bi­blio­thek für 141,5 Mil­lio­nen er­rich­tet und vom Kan­ton zu zwei Drit­teln fi­nan­ziert wer­den soll, stün­den kei­ne För­der­mit­tel für In­fra­struk­tur­pro­jek­te in an­de­ren Kan­tons­tei­len zur Ver­fü­gung. «Man kann die­sen kri­ti­schen Punkt na­tür­lich ein­fach igno­rie­ren und sich dann bei ei­nem Volks-Nein wun­dern und die Au­gen rei­ben. Wir möch­ten dies nicht, wes­halb wir uns früh­zei­tig ein­ge­bracht ha­ben.» Die Ge­mein­de­au­to­no­mie ste­he je­den­falls «kei­nes­wegs im Wi­der­spruch zu ei­ner ver­stärk­ten Re­gio­na­li­sie­rung der Bi­blio­theks­land­schaft», wie sie die FDP for­dert, «ganz im Ge­gen­teil».

Ein Denk­zet­tel für die Stadt?

Lip­pu­ner be­strei­tet, dass die FDP-Frak­ti­on mit die­ser po­pu­lis­ti­schen For­de­rung den Stadt-Land-Gra­ben un­nö­tig auf­reis­se und da­mit das Bi­blio­theks­pro­jekt ge­fähr­de: «Das Pro­jekt wird ins­be­son­de­re durch die­je­ni­gen Per­so­nen ge­fähr­det, die ei­ne In­ter­pel­la­ti­on mit be­rech­tig­ten Fra­gen und An­lie­gen zum Un­ding er­klä­ren, statt sich ei­ner in­halt­li­chen Dis­kus­si­on zu stel­len. An die­ser Stel­le gilt es wie­der­um zu be­to­nen, dass je­de Kul­tur-In­ves­ti­ti­on in der Stadt frü­her oder spä­ter als Zen­trums­last ins Feld ge­führt und ei­ne zu­sätz­li­che Ab­gel­tung durch den Kan­ton ver­langt wird. Das ist nicht ge­ra­de för­der­lich für den Stadt-Land-Zu­sam­men­halt.»

Der zwei­te Teil der Ant­wort ist in­so­fern in­ter­es­sant, als Lip­pu­ner noch im Ja­nu­ar, im Vor­feld der Kan­tons­rats­wah­len, im «St.Gal­ler Tag­blatt» auf die Fra­ge, was bei ei­ner Wie­der­wahl sein ers­ter Vor­stoss wä­re, ant­wor­te­te: «Die Stadt St.Gal­len be­klagt sich zu­neh­mend über ih­re Zen­trums­las­ten als Haupt­stadt und Sitz von Kan­tons­ver­wal­tung und kul­tu­rel­len In­sti­tu­tio­nen. Wenn die­se Zen­trums­funk­ti­on als Last statt als Chan­ce emp­fun­den wird, soll­te ei­ne De­zen­tra­li­sie­rung ernst­haft ge­prüft und so­weit mög­lich um­ge­setzt wer­den.» Ge­gen­über Sai­ten äus­sert er sich prak­tisch iden­tisch: «Dass auch ei­ne De­zen­tra­li­sie­rung ge­prüft wer­den soll, ist ins­be­son­de­re auf das wie­der­hol­te Weh­kla­gen der St.Gal­ler Stadt­prä­si­den­tin zu­rück­zu­füh­ren, die je­de Kul­tur­in­ves­ti­ti­on in­ner­halb der Stadt St.Gal­len frü­her oder spä­ter als Zen­trums­last ins Feld führt.»

Die­se «Dro­hung» nimmt die FDP-Frak­ti­on auf, in­dem sie in der In­ter­pel­la­ti­on ex­pli­zit die Fra­ge stellt, wie die Re­gie­rung ei­ner Neu­auf­la­ge der Vor­la­ge, ei­nem al­ter­na­ti­ven Stand­ort in der Stadt St.Gal­len oder ei­ner De­zen­tra­li­sie­rung der Kan­tons­bi­blio­thek ge­gen­über­ste­he. Letz­te­res wä­re je­doch ein Wi­der­spruch zum Bi­blio­theks­ge­setz. In Ar­ti­kel 22 heisst es: «Kan­ton und Stadt St.Gal­len er­rich­ten und füh­ren an zen­tra­lem Stand­ort ge­mein­sam ei­ne all­ge­mein zu­gäng­li­che Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek.» Auf die­sen Ein­wand ant­wor­tet Lip­pu­ner, an­ge­sichts der ho­hen In­ves­ti­ti­ons­sum­me, der mas­siv hö­he­ren Be­triebs­kos­ten und der der­zeit zu we­nig er­sicht­li­chen Vor­tei­le für an­de­re Re­gio­nen sei es na­he­lie­gend, dass die Fra­ge nach Al­ter­na­ti­ven ge­stellt wer­de. Die­se Ar­beit sei bis­lang un­ge­nü­gend ge­macht be­zie­hungs­wei­se kom­mu­ni­ziert wor­den.

Auch die Mit­te for­dert ei­ne Ver­klei­ne­rung

Mit ih­rer Op­po­si­ti­on rennt die FDP bei der SVP of­fe­ne Tü­ren ein. Auch bei der Mit­te dürf­te es die Bi­blio­thek in der vor­ge­se­he­nen Form schwer ha­ben, sagt Bo­ris Tschir­ky, Prä­si­dent der Mit­te/EVP-Frak­ti­on im Kan­tons­rat. «Der Knack­punkt ist die Di­men­si­on des Pro­jekts.» Ei­ne der zen­tra­len Funk­tio­nen der neu­en Bi­blio­thek sei der Wis­sens­trans­fer. Ob es da­für die­se bau­li­che und da­mit auch fi­nan­zi­el­le Grös­se brau­che, sei aus sei­ner Sicht frag­lich. «Den Raum­be­darf muss man auf je­den Fall noch­mal kri­tisch an­schau­en, an­sons­ten dürf­te die Vor­la­ge kaum mehr­heits­fä­hig sein», sagt Tschir­ky.

Aus­ser­dem ha­be die Mit­te im Rah­men der Ver­nehm­las­sung eben­falls dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die Re­gio­na­li­tät in der Vor­la­ge ein grös­se­res Ge­wicht be­kom­men müs­se, da­mit die neue Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek der­einst als ei­ne Art Hub für die Ge­mein­de­bi­blio­the­ken in den Re­gio­nen die­nen kön­ne. Das be­inhal­te, Lö­sun­gen zu fin­den, um ge­ge­be­nen­falls auch das ei­ne oder an­de­re Bau­pro­jekt fi­nan­zi­ell zu un­ter­stüt­zen.

Re­gio­na­le Aus­ge­wo­gen­heit als Tar­nung für An­griff

SP-Kan­tons­rat Mar­tin Sai­ler ist an­de­rer Mei­nung. Er kri­ti­siert die bür­ger­li­chen Par­tei­en und ins­be­son­de­re die FDP scharf. Die­se füh­re die re­gio­na­le Aus­ge­wo­gen­heit ins Feld, um das St.Gal­ler Bi­blio­theks­pro­jekt zu tor­pe­die­ren. Von ei­nem Be­darf der Ge­mein­de­bi­blio­the­ken an mehr Kan­tons­gel­dern ha­be er in sei­ner Funk­ti­on als Prä­si­dent der IG Kul­tur des Kan­tons­rats bis­her nichts mit­be­kom­men. Er strei­te nicht ab, dass die Kos­ten sehr hoch sei­en, sagt Sai­ler. «Aber wenn man sieht, was al­les in der neu­en Bi­blio­thek ge­plant ist, re­la­ti­vier­ten sie sich wie­der.» Die St.Gal­ler Bi­blio­theks­land­schaft brau­che ei­ne star­ke Haupt­bi­blio­thek in der Haupt­stadt. «Das be­deu­tet ja nicht, dass man den an­de­ren Bi­blio­the­ken et­was weg­neh­men will.» Sai­ler wun­dert sich zu­dem über den Zeit­punkt der In­ter­pel­la­ti­on: «Reich­lich spät, sol­che grund­sätz­li­chen Fra­gen zu stel­len …»

Rushmore (2021), Jonathan Callan, Privatsammlung, Boston, USA

Die Kri­tik der FDP am städ­ti­schen Kla­gen über die Zen­trums­las­ten be­zeich­net Sai­ler als «bö­se Un­ter­stel­lung». Er wer­de nach Vor­lie­gen der Ant­wort auf die In­ter­pel­la­ti­on ein Tref­fen der par­la­men­ta­ri­schen IG Kul­tur zu die­sem The­ma or­ga­ni­sie­ren. Beim letz­ten Tref­fen zur Kan­tons- und Stadt­bi­blio­thek nach Be­kannt­ga­be des Wett­be­werbs­ge­win­ners sei­en die Kos­ten je­den­falls kein The­ma ge­we­sen.

Men­schen statt Me­di­en im Vor­der­grund

Braucht es denn die von der FDP und der Mit­te ge­for­der­te Stär­kung der «re­gio­na­len Aus­ge­wo­gen­heit» im kan­to­na­len Bi­blio­theks­we­sen? Seit der Ein­füh­rung des Bi­blio­theks­ge­set­zes ha­be sich sehr viel ge­tan, sagt Pau­la Loo­ser auf An­fra­ge. Sie führt die kan­to­na­le Fach­stel­le Bi­blio­the­ken. Vie­le Ge­mein­de­bi­blio­the­ken hät­ten ei­nen Wan­del hin­ter sich oder stün­den kurz da­vor. «Frü­her stand der Me­di­en­be­stand im Vor­der­grund, jetzt sind es die Men­schen. Es reicht nicht, bloss Me­di­en ins Ge­stell zu stel­len – un­ab­hän­gig da­von, ob es sich um ei­ne Kleinst- oder um die Kan­tons­bi­blio­thek han­delt. Es braucht auch Ver­mitt­lung.» Denn die Men­ge an In­for­ma­tio­nen, die man heu­te im In­ter­net fin­de, sei noch kein Wis­sen.

Die bi­blio­the­ka­ri­schen Dienst­leis­tun­gen sei­nen breit ge­fä­chert, von der Schu­lung der In­for­ma­ti­ons­kom­pe­tenz, der Me­di­en­bil­dung bis zu An­ge­bo­ten zur Le­se­för­de­rung von Kin­dern und Ju­gend­li­chen. Auch bei ge­sell­schaft­li­chen Her­aus­for­de­run­gen wie der Di­gi­ta­li­sie­rung, der Des­in­for­ma­ti­on und der Ver­ein­sa­mung leis­te­ten Bi­blio­the­ken ei­nen gros­sen und sehr wert­vol­len Bei­trag. Die Zu­tritts­zah­len im letz­ten Jahr – ins­ge­samt über ei­ne Mil­li­on an al­len Stand­or­ten – zei­gen, dass Bi­blio­the­ken als Or­te der Be­geg­nung, des Aus­tauschs und der Bil­dung auch und ge­ra­de im di­gi­ta­len Zeit­al­ter ab­so­lut re­le­vant sind.

«Da­durch stär­ken wir die gan­ze Ge­sell­schaft»

Die Auf­ga­ben der Bi­blio­the­ken sind al­so durch den ge­sell­schaft­li­chen Wan­del viel­fäl­ti­ger und kom­ple­xer als frü­her. «Mei­ner An­sicht nach kann der Viel­falt die­ser Her­aus­for­de­run­gen nur ge­mein­sam be­geg­net wer­den», sagt Loo­ser. Um die Bi­blio­the­ken zu stär­ken, un­ter­stützt die Fach­stel­le Bi­blio­the­ken – ge­stützt auf das Bi­blio­theks­ge­setz – mit Be­ra­tung, Wei­ter­bil­dun­gen und di­ver­sen Ver­net­zungs­an­läs­sen. In der letz­ten Stra­te­gie­pe­ri­ode sei­en von 44 ein­ge­ge­be­nen För­der­ge­su­chen 43 be­rück­sich­tigt wor­den. «Letzt­lich geht es um bi­blio­the­ka­ri­sche Dienst­leis­tun­gen, die der brei­ten Be­völ­ke­rung zu­gu­te­kom­men. Da­durch stär­ken wir die gan­ze Ge­sell­schaft.»

Die Fra­ge in den bei­den FDP-Vor­stös­sen, ob die Ent­wick­lung bei der Di­gi­ta­li­sie­rung des Bü­cher­an­ge­bots zu ei­ner Re­di­men­sio­nie­rung des Bau­pro­jekts füh­ren wür­de oder so­gar die Nut­zung be­stehen­der Räum­lich­kei­ten wie der Haupt­post mög­lich wä­ren, zeigt letzt­lich nur, dass sie ein ver­al­te­tes Bild ei­ner Zen­trums­bi­blio­thek hat. Dem Kan­ton und der Stadt St.Gal­len bie­tet sich ge­ra­de ei­ne viel­leicht ein­ma­li­ge Mög­lich­keit, et­was Gros­ses und Gu­tes zu rea­li­sie­ren und nach­hal­tig in Bil­dung und Kul­tur zu in­ves­tie­ren. Das gan­ze Bi­blio­theks­we­sen im Kan­ton ist auf ei­nen Leucht­turm an­ge­wie­sen, der ge­nü­gend Strahl­kraft hat. Nimmt ihm die Po­li­tik die­se weg, wird’s auch an­ders­wo dunk­ler.

Ma­rio Nae­ge­le ist Gra­fik­de­si­gner mit Fo­kus auf Iden­ti­ty De­sign und Buch­ge­stal­tung. Er be­schäf­tigt sich mit dem Buch als Ob­jekt und or­ga­ni­siert un­ter an­de­rem ei­ne Talk­rei­he im «House of Books» in Zü­rich. Nae­ge­les Fo­to-Es­say The Sculp­tu­ral Book be­schäf­tigt sich mit den phy­si­schen Ei­gen­schaf­ten des Bu­ches und prä­sen­tiert sie in Form von Ob­jek­ten. Ziel ist es, die per­for­ma­ti­ven und skulp­tu­ra­len Qua­li­tä­ten von Bü­chern auf­zu­zei­gen. Die For­schung ba­siert auf Theo­rien der Bild­haue­rei und ist von die­sen ge­prägt.